Die Riesin Arachna Юрий Кузнецов zauberland #9 Der Tiger irrte sich nicht. Ein Riesenkerl mit mächtigen Fäusten hatte den Säbelzahntiger am Genick gepackt und hielt ihn wie ein Kätzchen in die Höhe. Achr, einst stolzer Anführer eines Rudels gefährlicher Raubtiere, sieht sich allein und gefangen von den Riesen des Stammes der Uiden. Doch dann erweist sich diese Gefangenschaft zum Wohle, denn das Riesenmädchen Ah wird seine Freundin, Spielgefährtin und Weggefährtin ins Zauberland. Die Seeschlange Glua bringt beide über den dunklen Fluß hin zum Todesriff, dem Eingangstunnel zum Zauberland. Da drängt sich die Riesin Arachna hinzu. Die Schlange ist stark, und wahrscheinlich hätte sie die Riesin abgeschüttelt, wäre da nicht der Felsblock gewesen. Den entdeckt die Riesin und wickelt den Schwanz der Schlange um den Stein herum. Mit letzter Kraft ermöglicht die Schlange Glua dem Säbelzahntiger und dem Riesenmädchen Ah, aber auch der Riesin Arachna die Rückkehr ins Zauberland. Jetzt will Arachna beide gefangen nehmen. Flucht und Verfolgung enden bei dem schwarzen Stein des Zauberers Hurrikap. Seine Tunnel treiben den Tiger und das Mädchen Ah in die Vergangenheit und unverhofften Abenteuern entgegen. Arachna führt der Tunnel in ihre Kindheit zurück, zu den Zwergen im Kampf gegen Karena. Aus dem Russischen von Aljonna Möckel Einbandgestaltung Leonid Wladimirski / Hans-E. Ernst Illustrationen Hans-E. Ernst Erster Teil: Arachnas Rückkehr DER TIGER IN NÖTEN Der Säbelzahntiger Achr trottete ziellos dahin. Einst Anführer eines ganzen Rudels gefährlicher Raubtiere, hatte er sich schon als Herrscher über das Volk der Käuer gesehen. Dann aber war er vom Höhlenlöwen Grau zweimal hintereinander überlistet und besiegt worden. Von diesem Fremdling, der Gott weiß woher gekommen war und sich im Zauberland auf die Seite des Tapferen Löwen geschlagen hatte! Die Erinnerung an diese Schmach bedrückte den Säbelzahntiger sehr, das war ihm deutlich anzusehen. Seine sonst so runden Backen hingen schlaff herab, verdeckten fast völlig die langen spitzen Hauer, und die traurig gesenkten Barthaare erinnerten an einen alten Staubwedel. Andererseits war aber auch zu erkennen, daß Achr schon im nächsten Augenblick vor Zorn zu explodieren drohte. Man brauchte nur seinen Schwanz zu betrachten, der wild von einer Seite zur anderen ausschlug, so als wollte das Tier mit der Quaste seine Spuren verwischen. Doch seine Gegner hielten ihn offenbar nicht einmal einer Verfolgung für würdig. Niemand weit und breit, der sich ihm an die Fersen geheftet hätte! Der Höhlenlöwe Grau war mit dem Tapferen Löwen und den fünf Säbelzahntigern, dem ehemaligen Rudel Achrs, auf dem Weg in die Große Wüste, wo die besten Handwerker des Zauberlandes und die Außerirdischen vom Planeten Rameria den Katamaran »Arsak« bauten. Mit diesem Katamaran sollte die Suche nach dem Seemann Charlie Black aufgenommen werden, der irgendwo im Golf von Mexiko Schiffbruch erlitten hatte. Doch Achr gehörte keineswegs zu denen, die beim ersten Rückschlag aufgaben oder mit dem vorliebnahmen, was ihnen irgendwelche dahergelaufenen Löwen großmütig überließen! Er schmiedete Rachepläne gegen seine Erzfeinde und gegen die ungetreuen Tiger, die ihn verraten hatten. Freilich waren das für einen allein, ja sogar für einen wie ihn, ziemlich viele Gegner. Ich muß mir Verbündete suchen, sagte sich Achr. Andererseits – was für Gleichgesinnte gab es denn im Zauberland noch. Die Sechsfüßer, früher ungebärdig und gefürchtet, waren längst zahm geworden, und der Drache Oicho völlig harmlos. Er hielt außerdem Freundschaft mit dem Scheuch, dieser lächerlichen Strohpuppe, und mit dem inzwischen fast ganz eingerosteten Eisernen Holzfäller. Der Säbelzahntiger lief dahin, hing seinen düsteren Gedanken nach und bemerkte nicht, daß er plötzlich an jener Fallgrube angelangt war, zu der er seinerzeit den Höhlenlöwen gelockt hatte. Er konnte nicht mehr anhalten und stürzte selber hinein. Im Grunde hätte Achr dem Löwen dankbar sein müssen, denn Grau hatte bei seinem Sturz damals ein Loch in die Grubenwand geschlagen, durch das man entkommen konnte. Dahinter lag ein uralter unterirdischer Gang. Der Tiger allein hätte es nie geschafft, sich aus dieser Falle zu befreien, er war zu schwach. Achr entdeckte die Öffnung und schlüpfte hindurch. Bald darauf stieß er auf Graus Spuren. Sie führten nach rechts, und er folgte ihnen in der Annahme, am Gelben Backsteinweg herauszukommen, wo die Begegnung mit dem Löwen stattgefunden hatte. Doch das sollte sich als Irrtum erweisen. Grau hatte sich nur anfangs rechts gehalten, dann jedoch die Richtung gewechselt. Er wollte den Käuern zu Hilfe eilen und hatte die Säbelzahntiger zu Recht in ihrer Nähe vermutet. Überzeugt, den richtigen Weg zu nehmen, achtete der Tiger bald nicht mehr auf die Spuren. Er trabte den Gang entlang, der immer tiefer ins Erdinnere führte. Das beunruhigte den Tiger zunächst nicht besonders. Nur Durst bekam er langsam, und auch gegen eine kleine Mahlzeit hätte er nichts einzuwenden gehabt. Erst als die Staubschicht unter seinen Pfoten dicker wurde, bemerkte er, daß es keinerlei Spuren mehr gab. Er verlangsamte seinen Lauf. »Bin ich etwa doch in die falsche Richtung gerannt?« schimpfte Achr. »Da hat mich dieser hinterhältige Löwe also erneut genarrt! Na warte, Grau, das zahl ich dir heim!« Achr blieb stehen und wollte schon kehrtmachen, doch sein Lauf hatte mehr Staub aufgewirbelt, als ihm lieb sein konnte; die Wolke benahm ihm fast den Atem. Er fauchte wütend und zog sich etwas zurück. Da würde er wohl warten müssen, bis die Luft hier unten wieder einigermaßen klar war. Er legte sich hin, um einige Augenblicke auszuruhn. Doch daran war nicht zu denken. Die Staubschwaden glitten unaufhaltsam auf ihn zu, so daß er schnaufend und spuckend noch weiter zurückwich. Der Boden wurde immer abschüssiger, und so vorsichtig er auch vorankroch, um nicht noch mehr Schmutz aufzuwirbeln – die Wolke folgte ihm. Nachdem er wütend, aber natürlich vergebens seinen Widersacher Grau an die eigene Stelle gewünscht hatte, setzte er sogar zu einigen Sprüngen an, um endlich wieder atmen zu können. Das allerdings endete mit einem neuen Reinfall. Beim dritten oder vierten Satz nämlich prallte er in der Dunkelheit unvermutet und voller Wucht gegen eine Felswand. Achr setzte sich erschrocken auf seine Hinterbacken, sah unzählige Sterne kreisen. Um wieder zur Besinnung zu kommen und zu überprüfen, ob er sich etwas verstaucht oder gar gebrochen hätte, bewegte er mehrmals den Kopf hin und her. Zum Glück schien noch alles in Ordnung zu sein. Nur daß er jetzt wohl endgültig in der Falle saß: von hinten kam der Staub immer näher, vorn aber waren die Felsen. Achr lief gehetzt umher, in der verzweifelten Hoffnung, ein Schlupfloch zu finden. Doch seitlich und vorn gab es nichts als undurchdringliches Gestein. So lang der unterirdische Gang auch war, hier schien er plötzlich zu enden. Wozu dann aber ein so ausgedehnter, vielleicht gar nicht zufällig entstandener Tunnel? Ob es an dieser Stelle einen Durchgang gegeben hatte, der später zugemauert worden war? Möglicherweise um ungebetene Gäste abzuhalten? Achr machte sich hastig daran, die Wand vor ihm genauer zu untersuchen. Vielleicht entdeckte er einen Riß, einen Spalt, den er verbreitern konnte. Warum sollte es ihm nicht gelingen, sich hindurchzuzwängen und auf der anderen Seite ans Tageslicht zu gelangen. Der Höhlenlöwe hatte das schließlich auch geschafft. Doch bei dieser Arbeit wirbelte er nur neuen Schmutz auf, und auch die Schwaden hinter ihm holten ihn wieder ein. Schon waren Nase und Maul voller Staub. Verzweifelt schlug Achr mit den Tatzen und seinen mächtigen Säbelzähnen auf die steinerne Wand ein. Wider Erwarten gelang es ihm nach und nach, in einem breiten Streifen Splitter und ganze Brocken herauszulösen. Ein Spalt öffnete sich, und unvermittelt wurde es heller in der Höhle. Ein kaltes milchiges Licht drang zu ihm herein. Von seinem Erfolg beflügelt, arbeitete der Tiger emsig weiter. Hinter dem Spalt befand sich eine Art durchsichtiger Barriere. Achr klopfte ein großes Stück davon frei – das Ganze schien so etwas wie eine Mauer zu sein, die sich im Laufe von Jahrhunderten, vielleicht sogar Jahrtausenden mit einer dicken Schicht von Kalk und Schmutz bedeckt hatte. Sie bestand nicht aus Steinen, sondern aus einem glasähnlichen unzerbrechlichen Material, das seinen Schlägen standhielt. Die Wand klirrte und dröhnte unter den wuchtigen Hieben, trug aber nicht den kleinsten Kratzer davon. Im Gegenteil, als Achr nicht nachließ, sie immer heftiger zu attackieren, brach er sich die Spitze eines seiner prachtvollen Säbelzähne ab. Da endlich gab er seine sinnlosen Bemühungen auf und setzte sich erschöpft auf den Boden. Der Staub hatte ihn mittlerweile eingeholt und hüllte nicht nur ihn selbst ein, sondern die ganze Höhle mitsamt dem so mühsam bloßgelegten Fenster. Es hätte für den Tiger die Rettung bedeuten können, denn dahinter lockte die Freiheit, eine ganze unterirdische Welt. In der Ferne sah man einen Fluß und eine Landschaft mit Tälern und Hügeln. Doch das alles war für ihn unerreichbar. Er war gefangen, und der Staub setzte sich in seiner Nase fest, in den Augen, ja sogar in der Kehle. Achr mußte husten, auf einmal erschien ihm sein gewaltiger Zorn, sein Groll auf den Tapferen Löwen und den Höhlenlöwen, der so unvermittelt im Zauberland aufgetaucht war, klein und nichtig. Eigentlich lohnt sich der Streit nicht, dachte er, es gibt Wichtigeres, ich sollte mich mit ihm vertragen. Immerhin lebten schon unsere Vorfahren zusammen und sind miteinander ausgekommen. DIE RETTUNG In diesem Augenblick geschah etwas Sonderbares. Kaum war der Tiger friedfertig geworden, kaum hatte er das Böse und Feindselige aus seinen Gedanken verdrängt, spürte er ein Kribbeln in seiner vom Staub ganz trockenen und heißen Nase. Er streckte vorsichtig die Pfote aus und stellte zu seiner großen Überraschung fest, daß die Barriere verschwunden war. Der Weg nach vorn war urplötzlich frei, und auch das Atmen wurde wieder leichter. Frische kühle Luft kitzelte angenehm seine Nüstern. Achr sauste beglückt los. Doch er kam nicht weit. Noch halb blind von dem gräßlichen Staub, der hinter ihm zurückblieb, machte er einige Sätze, übersah aber einen unvermittelt vor ihm auftauchenden Abgrund. Vergeblich versuchte er, mitten im Sprung anzuhalten, es gelang nicht. Hals über Kopf stürzte Achr zum zweitenmal an diesem unglückseligen Tag in die Tiefe. Nur mit Mühe federte er den Fall ab, blieb danach wie betäubt am Boden liegen. Damit waren die Schrecken dieses Tages allerdings noch lange nicht ausgestanden. Der Tiger hatte sich kaum etwas von seinem Sturz erholt, da befand er sich schon wieder in der Luft. Besser gesagt, er spürte, wie er am Schlaffittchen gepackt und hochgehoben wurde. Das war ihm seit frühester Kindheit nicht mehr widerfahren. Ja, jemand hielt ihn in die Höhe und wendete ihn hin und her, als wollte er sich vergewissern, was für ein seltsames Spielzeug ihm zugefallen war. Der Tiger irrte sich nicht. Er sah ein Paar riesiger Augen auf sich gerichtet, die ihn neugierig musterten. Eine entsprechend große Nase saß darunter, ein gewaltiger Mund, und das alles gehörte zu einem Gesicht von beträchtlichen Ausmaßen. Ein Riesenkerl mit mächtigen Fäusten hielt Achr gepackt. Aufs äußerste erbost, daß man ihn wie ein Hündchen behandelte, setzte sich der Tiger zur Wehr. Er riß fauchend den Rachen auf, schlug mit den starken Tatzen nach dem fremden Gesicht, um dem Kerl die Nase zu zerfetzen, ihm die Augen auszukratzen. Ein für allemal sollte ihm die Lust vergehen, einen Säbelzahntiger am Kragen zu packen. Doch der Riese ließ sich nicht überrumpeln. Blitzschnell brachte er seine Nase aus der Gefahrenzone, Achr dagegen bekam einen Klaps auf die Schnauze, der sich gewaschen hatte. Tränen der Kränkung traten ihm in die Augen, und der Schmerzensschrei, der seiner Kehle nun doch entfuhr, hörte sich an wie das Zischen eines schwelenden Holzscheits, wenn es ins Wasser getaucht wird. Achr kochte vor Wut. Er begann sich nach Kräften zu winden und schlug seine Krallen in die Hand, die ihn festhielt. Nein, er war keine Hauskatze, das bewies das ohrenbetäubende Gebrüll, das sein Prankenhieb auslöste. Die große Hand ließ los, und Achr sauste ein drittes Mal in die Tiefe. Also wirklich, heute war ganz und gar nicht sein Tag, er kam aus dem Fallen einfach nicht heraus! Bloß daß er diesmal zum Glück weich landete: in einem dunklen, weich federnden Verlies. Der Riese trug nämlich einen Sack bei sich, in den der Tiger stürzte! Später wurde Achr herausgeschüttelt und fand sich auf dem Boden einer riesigen Höhle wieder, die den Riesen als Heimstatt diente. Augenblicklich war er auf den Beinen, bereit, sich mit Krallen und Zähnen gegen jeden Angriff zu verteidigen. Diesmal sah der Tiger bereits drei Augenpaare auf sich gerichtet. Die Säulen aber, von denen er im ersten Moment geglaubt hatte, sie würden das Dach abstützen, erwiesen sich als drei Beinpaare. Sie standen so dicht beieinander, daß dem Gefangenen nicht die geringste Chance auf eine Flucht blieb. Der Tiger setzte sich aufs Hinterteil, zeigte drohend seine spitzen Hauer und brüllte furchteinflößend: »A-a-ch-ch-r-r-r!« Als Antwort ertönte eine Stimme, die so laut hallte, daß sie den Tiger fast betäubte. »Schau mal, Mama, wie lustig er ist. Er faucht sogar ein bißchen!« Es war die Stimme eines Riesenmädchens, die in den Ohren der Mutter vielleicht niedlich, für ihn jedoch wie ein Donnergrollen klang. Achr klemmte den Schwanz ein. Armer Tiger! Seine gefährlichen Zähne schreckten niemanden, und das drohende Gebrüll, das den Bewohnern des Zauberlandes fast das Blut in den Adern gefrieren ließ, war für die Riesen hier nichts als ein possierliches Gepiepse. Wie Achr später erfuhr, wohnte in dieser Höhle eine kleine friedliche Familie vom Stamme der Uiden. Diesen Namen hatten sich die Riesen vor unendlich langer Zeit selbst gegeben. Zur Familie gehörten drei Personen: Papa A, der unterwegs auf den Tiger gestoßen war und ihn im Sack hergebracht hatte, Mama Ara und das Mädchen Ah. Sie lebten in dieser Höhle, solange die kleine Ah denken konnte, und das waren immerhin fast sieben Riesenjahre. Schon vorher aber waren sie hier zu Hause gewesen, in diesem unterirdischen Tal, am Ufer eines unterirdischen Flusses. Freilich empfanden sie selbst weder das Tal noch den Fluß als unterirdisch, denn sie waren noch nie nach oben gelangt, zur Erdoberfläche. Für sie waren es einfach der Dunkle Fluß und das Tal. Nur Papa Ar erzählte manchmal vom Großvater, der wiederum von seinem Vater gehört hätte, irgendwo gäbe es noch eine andere Welt. An dieses Gerücht hatten aber schon die Alten nie so recht geglaubt, sondern alles für müßiges Geschwätz gehalten. Sie fühlten sich wohl in ihrem Tal, wo es trocken und warm und der Fluß reich an Fischen war. Was wollten sie mehr? Lediglich eine entfernte Verwandte Ahs, eine zänkische Alte, hatte an allem etwas auszusetzen gehabt. Als sie dann eines Tages aus der Höhle verschwand und nicht mehr wiederkam, waren alle erleichtert. Das Mädchen Ah liebte ihr Tal ebenfalls, nur fühlte sie sich manchmal ein bißchen einsam. Besonders wenn die Erwachsenen ihrem langweiligen Tagwerk nachgingen. Nun habe ich endlich jemanden zum Spielen, dachte das Mädchen erfreut, während sie das drollige kleine Tier betrachtete. Wie ulkig das Kerlchen doch aussieht mit seinen winzigen spitzen Zähnen, die aus der Schnauze ragen, und mit seinem gestreiften Fell! »Wir wollen ihn Achr nennen«, schlug sie vor, »er hat sich ja selbst so vorgestellt. Außerdem erinnert sein Name an den von Großvater Aracha.« Gegen diesen Vorschlag hatte niemand etwas einzuwenden, und so wurde der Säbelzahntiger zum zweitenmal auf den Namen Achr getauft, zu Ehren des ihm unbekannten Großvaters. Das Mädchen Ah war höchst zufrieden, als das Tierchen, kaum daß sie es mit seinem Namen ansprach, sofort den Kopf hob und sie anschaute. Sie wollte, beflügelt von ihrem Erfolg, seinen Rücken streicheln, doch der Tiger sträubte derart bedrohlich sein Fell, daß sie von ihrem Vorhaben abließ. Schließlich waren die Kratzer auf der Hand ihres Vaters nicht zu übersehen. Und tatsächlich überlegte Achr auch einen Augenblick, ob er nicht nach dem Finger der Kleinen schnappen sollte. Doch war es vielleicht erst einmal besser, abzuwarten. Als Ah dann vermutete, das kleine Tier könnte Hunger und Durst haben, hatte der Tiger nichts einzuwenden. Wirklich, er konnte eine Stärkung gebrauchen, der Magen knurrte ihm, und der Hals war ganz ausgetrocknet. Das Mädchen stellte ihm eine Schüssel mit Wasser hin und warf ihm ein »Fischchen« vor die Füße, das nur wenig kleiner war als er selbst. Um diesen Gründling zu bändigen, der noch lebte und erbost mit dem Schwanz schlug, mußte Achr alle Kräfte aufbieten. Doch schließlich trug er den Sieg davon, sättigte sich und löschte auch seinen Durst, indem er die Schüssel Wasser leertrank. Damit gab er zu verstehen, daß er seine Rolle als zahmes Haustier zumindest fürs erste annahm. Als das Mädchen ihn dann streichelte und auch hinterm Ohr kraulte, ließ er es großmütig zu. Zwar sträubte sich ihm bei der ersten Berührung noch gewaltig das Fell, doch nach und nach fand er Gefallen daran, genoß es schließlich sogar. Hätten die Bewohner des Zauberlandes seinerzeit Gelegenheit gehabt, den Säbelzahntiger zu streicheln – wer weiß, vielleicht hätte sich sein Schicksal anders gestaltet, und er wäre ebenso zahm geworden wie die Sechsfüßer oder der Drache Oicho. Wie dem auch sei, in der Höhle der Uiden herrschten Eintracht und Friede, und Achr fügte sich gern in sein Schicksal. Mehr noch, er und das Mädchen Ah wurden bereits kurze Zeit später richtig dicke Freunde. DER NÄCHTLICHE ZWEIKAMPF Erschöpft von seinen anstrengenden Abenteuern, fiel der Tiger, kaum daß er gegessen und getrunken hatte, in einen tiefen Schlaf. Er schlief den ganzen restlichen Tag hindurch und auch noch die halbe Nacht. Bis er plötzlich von einem seltsamen Geräusch erwachte. Es war ein Raunen und Zischeln, eine Art »Schu-a, schu-a«, das in seine Träume drang. Achr öffnete einen Spaltbreit die Augen, und da er, wie alle Katzen, im Dunkeln ausgezeichnet sehen konnte, entdeckte er sofort ein merkwürdiges Tier, das auf ihn zukroch. Es bewegte sich schemenhaft und nahezu lautlos, nur das leise unheilvolle Zischen war verräterisch. Offenbar ein Raubtier, das auf Beute aus war und sich schon seines Erfolges sicher glaubte. Doch der Tiger Achr war alles andere als eine Beute! Er setzte, im Gegenteil, zum Sprung an. Sobald das unbekannte Geschöpf in Reichweite war, schnellte er blitzschnell nach vorn. Für ihn war, wie für jeden Tiger, der erste Satz entscheidend. Es mußte ihm gelingen, auf dem Rücken des Gegners zu landen, dann war der Sieg schon halb errungen. Und Achr erreichte sein Ziel. Das Tier, auf einen Angriff nicht vorbereitet, verharrte überrascht. Sein Zischen ging in ein zorniges Brüllen über, als der Tiger so unverhofft auf seinem Schuppenpanzer aufprallte. Von dem plötzlichen Gewicht wurde es zu Boden gedrückt. Doch es raffte sich sofort wieder auf, hetzte hin und her, um den Gegner abzuschütteln. Dabei peitschte es die Luft mit seinem langen Schwanz, an dessen äußerstem Ende sich ein spitzer, gezackter, an eine Harpune erinnernder Dorn befand. Ein giftiger Dorn – hätte er sich in den Körper des Tigers gebohrt, es wäre sein Ende gewesen. Achr hielt sich nur mit größter Mühe auf dem Rücken des Angreifers, der ganz und gar mit diesem Panzer versehen war. Sogar der Schwanz und der Hals waren mit dicken Hornplatten bedeckt. Dann zog das Ungetüm jäh den Kopf ein und bäumte sich wie ein Stier auf, um den ungebetenen Gast endlich abzuwerfen. Der Tiger konnte sich nicht halten, seine Krallen rutschten auf dem glatten Panzer ab. Achr klatschte zu Boden, war aber in Sekundenschnelle wieder auf den Beinen und griff diesmal von hinten an. Mit aller Wucht schlug er seine Zähne in den Schwanz, knapp neben dem giftigen Stachel, und ließ nicht mehr los. So wogte der Kampf auf Leben und Tod hin und her, ohne eine Entscheidung zu finden. Das Schuppentier hätte sicherlich gern den Rückzug angetreten, doch Achr hielt es fest gepackt. Diese gefährliche Auseinandersetzung wäre wohl noch eine Zeitlang so weitergegangen, hätte ihr nicht Papa Ar ein Ende bereitet. Er war von den ungewöhnlichen Geräuschen wach geworden und hatte Licht gemacht, um zu sehen, was los war. Aber das ist ja eine Schua! dachte er erschrocken. Wie ist dieses kreuzgefährliche Biest bloß hierher geraten? Ein Glück, daß die Katze aufgepaßt hat, sonst hätte das Schlimmste passieren können. Denn mit ihrem scharfen Gebiß und dem Giftstachel war die Schua auch für Riesen lebensbedrohlich. Das Schuppentier begriff, daß es ihm nun an den Kragen ging, und unternahm einen letzten Versuch, zu entkommen. Es riß sich mit aller Kraft von Achr los, wobei es allerdings den Schwanz einbüßte. Plötzlich frei, stürzte es Hals über Kopf davon und aus der Höhle. Im eigenen Bau würde es seine Wunden lecken und abwarten, bis ihm ein neuer Schwanz samt Giftstachel gewachsen war. Endlich gelang es auch dem Tiger, seine Hauer aus den Hornplatten zu lösen. Er sprang zur Seite und beobachtete die letzten Zuckungen des jetzt selbständigen Schwanzes. Der peitschte noch einmal die Luft, wand sich und kam endlich zur Ruhe. Achr ließ, gewissermaßen als Zeichen seines Sieges, ein triumphierendes Gebrüll ertönen, rannte ein Stück zur Seite und streckte sich ermattet aus. Ar ging zu ihm. Im Fackelschein glühten die gelben Augen des Tigers wie zwei kleine Kohlestücken. »Bist ein Prachtkerl«, sagte Ar freundlich, »ein ganz braves Tier.« Er hockte sich neben Achr und strich ihm übers Fell, das noch immer ein bißchen gesträubt war. Dann entfernte er sich kurz und kam mit einem Fisch zurück, legte ihn vor den Tiger hin. »Hier, friß, hast es dir verdient.« Der stolze Säbelzahntiger aber, der die Sechsfüßer und den Drachen Oicho stets verachtet hatte, weil sie den Menschen dienten, empfand plötzlich Befriedigung, jemandem von Nutzen gewesen zu sein. Ar löschte die Fackel wieder, und Stille kehrte ein. Als am anderen Morgen der Rest der Familie beim Frühstück beisammensaß, erzählte Papa Ar von dem nächtlichen Ereignis, und der Tiger wurde erneut mit guten Worten, aber auch mit Leckerbissen überhäuft. Bei meinen Krallen und Zähnen, dachte Achr, während er sich genüßlich die Backen vollstopfte, eigentlich ist es ganz schön, geliebt und geachtet zu werden! Nachdem alle gegessen hatten, ging das Mädchen Ah spielen. Endlich brauche ich nicht mehr allein los, dachte sie, kann Achr mitnehmen. Nur schade, daß er nicht spricht. Sie rannten aus der Höhle, die nicht allzu weit vom Fluß entfernt lag. »Das ist der Dunkle Fluß«, erklärte das Mädchen respektvoll. »Niemand weiß, wo er entspringt und wo er endet.« Sie liefen an dem leicht abschüssigen Ufer entlang. In seiner Neugier wagte sich der Tiger bis unmittelbar ans Wasser; er wollte prüfen, wie es schmeckte. Doch das Mädchen Ah rief erschrocken: »Geh nicht zu dicht heran, die Lange Glua könnte dich aufspüren! Das würde uns beiden schlecht bekommen.« Aber die Warnung kam zu spät. In der Mitte des Flusses, wo das Wasser einen deutlich sichtbaren Strudel bildete, wölbte sich plötzlich eine große Blase auf. Im selben Moment erschien ein flacher Kopf an der Oberfläche, der an den einer Schlange erinnerte, aber viel größer, ja geradezu riesig war. Ein starrer Blick aus runden Telleraugen traf den Tiger, dann setzten sich Kopf und Hals ganz sacht auf Achr und das Mädchen zu in Bewegung. Kurz darauf hatte der Kopf, auf dem Wasser dahingleitend, schon die Hälfte des Weges zum Ufer zurückgelegt, während der Hals noch immer kein Ende fand. Doch die beiden hatten auch kein Interesse daran, herauszufinden, wie lang er wirklich war. Sie rannten davon, möglichst weit vom Fluß fort. Das Mädchen Ah wagte nicht einmal, nach hinten zu schauen; sie fürchtete, der Kopf des Ungeheuers könnte sie jeden Augenblick im Genick packen. Ihr war, als spürte sie schon seinen Atem im Nacken. Der Atemhauch war auch keine Einbildung, nur stammte er glücklicherweise nicht von Glua, sondern von Ahs Spielgefährten Achr. Der Tiger, der natürlich viel schneller laufen konnte als das Mädchen, hielt sich absichtlich hinter ihr, um sie zu beschützen, falls der Schlangenkopf allzu neugierig werden sollte. Der aber dachte anscheinend gar nicht daran, sie zu verfolgen. Als Achr das erkannte, lief er um das Mädchen herum und stellte sich ihr in den Weg. Die kleine Ah jedoch rannte so schnell, daß sie gegen den Tiger prallte und hinfiel. »Was kommst du mir denn in die Quere?!« schimpfte sie ärgerlich, war aber sofort wieder auf den Beinen, strich das Kleid glatt und betrachtete den Kratzer an der Hand, den sie sich bei dem Sturz zugezogen hatte. »Willst du vielleicht, daß mich die Glua zu fassen kriegt?« Achr leckte ihr schuldbewußt das Knie, das gleichfalls ein wenig aufgeschlagen war. »Ich wollte dir nur klarmachen, daß uns niemand auf den Fersen ist«, murmelte er verlegen. »Was denn, du kannst sprechen?!« Das Mädchen schlug vor Verwunderung die Hände zusammen. »Wieso hast du das nicht schon früher verraten?« »Es gab keinen Grund dafür«, erwiderte Achr bescheiden. »Aber du brauchst nicht erstaunt zu sein. Ich komme schließlich aus dem Zauberland, und dort können alle sprechen: Menschen, Tiere und Vögel. Sogar der Weise Scheuch und der Eiserne Holzfäller.« Ah beugte sich zu Achr hinunter, packte ihn bei seinen runden Backen und drückte ihm einen begeisterten Schmatz direkt auf die Nasenspitze. Verwirrt, zugleich aber auch zufrieden, schüttelte der Tiger den Kopf und die Hände des Mädchens ab, wobei er ihr mit seiner rauhen Zunge flüchtig und wie unabsichtlich über die Wange strich. Ein so freundliches Verhalten gereichte einem einstmals gefürchteten Räuber und Anführer eines ganzen Rudels von Säbelzahntigern nun gewiß nicht zur Ehre. Achr baute insgeheim darauf, daß ihn niemand sah und keiner im Zauberland je etwas davon erfuhr. Andererseits war er aber liebebedürftig wie alle Katzen, selbst wenn er seinen Kopf für sich hatte! Das Mädchen Ah dagegen, noch immer verblüfft und aufs höchste beglückt, daß sie jemanden hatte, mit dem sie nicht nur spielen, sondern sich auch unterhalten konnte, plapperte munter drauflos. Sie erzählte dem Tiger, daß die Bewohner im Uidenland schon seit Urzeiten von der Existenz der langhälsigen Glua wüßten. Sie war, soweit man zurückdenken konnte, in dem Dunklen Fluß zu Hause, verschwand zwar manchmal für einige Zeit, tauchte dann aber urplötzlich wieder auf. Man munkelte sogar, die zänkische Alte sei damals nicht freiwillig davongelaufen, sondern von der geheimnisvollen Glua entführt worden. Der Säbelzahntiger seinerseits erinnerte sich an eine Geschichte, die von seinen Vorfahren überliefert war. Danach war eines Tages eine Riesin namens Arachna im Zauberland aufgetaucht, von der niemand wußte, woher sie kam. Wegen ihrer Boshaftigkeit und ihrer Greueltaten hatte der Große Zauberer Hurrikap sie in einen mehrere tausend Jahre währenden Schlaf versenkt. Nach dieser Zeit aber war sie wieder erwacht und hatte aus Rache einen dichten Nebel über das ganze Zauberland gebreitet. Die Bewohner nannten ihn den Gelben Nebel. Sie wären fast an ihm zugrunde gegangen. Achr deutete auch an, diese Riesin und Ahs zänkische Urahnin könnten ein und dieselbe Person sein, das jedoch wollte das Mädchen nicht glauben. Während der Tiger von seiner Heimat erzählte, dem fernen Zauberland, spürte Ah sein Heimweh. Und obwohl sie ihren neuen Spielgefährten gewaltig vermissen würde, beschloß sie, ihm bei seiner Rückkehr zu helfen. Eine gewisse Rolle spielte dabei wohl auch der unbestimmte Wunsch, selber mal einen Blick auf dieses Oberirdische Reich zu werfen. Auf jene Welt voller Helligkeit, wo eine freundliche Sonne schien, weiches grünes Gras wuchs und so sympathische kleine Geschöpfe herumsprangen wie dieser furchtlose Achr. Wenn diese Riesin in der oberen Welt wirklich meine böse Ahnin war, dachte sie unvermittelt, hat die Große Glua sie vielleicht doch entführt. Oder sie wurde vom Dunklen Ruß ins Zauberland gespült… »Falsch, mein kleines Mädchen, ganz falsch!« flüsterte es da plötzlich neben ihr. Ah fuhr erschrocken herum. Hinter einem der hier verstreut herumliegenden Steine entdeckte sie einen mächtigen Kopf. Es war das Haupt der Glua. DIE GROSSE SCHLANGE Das Mädchen Ah schrie auf und wich entsetzt zurück. Langsam, den Blick gebannt auf den Kopf gerichtet, der vielleicht zuschnappen würde, schob es sich Schritt um Schritt nach hinten. Nur möglichst weg von der Glua! Doch sie kam nicht weit, ihre Fersen stießen plötzlich an ein Hindernis. Sie wäre hingefallen, hätte nicht etwas Weiches und Federndes, das an ein elastisches Seil erinnerte, sie aufgefangen. Das Mädchen bekam es mit den Händen zu fassen und erschrak noch heftiger: das vermeintliche Tau war glitschig naß und nichts anderes als der zum Halbkreis geformte Schwanz der Schlange. »Immer mit der Ruhe, meine Kleine, schön vorsichtig, sonst tust du dir noch weh«, zischte die Schlange leise und mit gedehnter Stimme. »Der Glua kann man nicht entkommen, schau nur richtig hin!« Ah blickte sich um und stellte fest, daß die ganze Lichtung, auf der sie haltgemacht hatten, von der Schlange eingenommen wurde. Dabei hatten sie geglaubt, ihr entwischt zu sein! Die Glua schickte eine sanfte Wellenbewegung durch ihren langgezogenen Körper, so daß ihre wunderschöne perlmuttfarbene Schuppenhaut sichtbar wurde. Ah verfolgte fasziniert dieses Wellenspiel, das sich über die ganze Lichtung hinweg fortsetzte. Ihr wurde direkt schwindlig davon. Der Säbelzahntiger dagegen hatte sich angriffslustig zum Sprung geduckt. Bei den ersten zischenden Lauten der Schlange glaubte er noch, es erneut mit einer gefährlichen Schua zu tun zu haben, und auch als er seinen Irrtum erkannte, gab er sich nicht geschlagen. Er lauerte auf eine Gelegenheit, sich in der Schwanzspitze der Glua festzubeißen. Doch diese Gelegenheit kam nicht. Im Gegenteil, die Glua packte ihn mit eben diesem Schwanzende und hob ihn hoch in die Luft. »Wer wird denn so wagemutig sein, mein Kätzchen!« sagte die Schlange spöttisch und beobachtete belustigt, wie der Tiger verzweifelt, aber völlig erfolglos mit den Beinen strampelte. »Willst du wieder abstürzen wie neulich, als du zu uns ins Tal gepurzelt bist? Das würde deinen Pfötchen gar nicht gut bekommen. Beruhige dich, ich fresse weder kleine Mädchen noch winzige Tiere, schon gar nicht, wenn sie so tapfer sind wie du. Übrigens schmecken sie mir auch nicht, selbst die boshafte Urahnin von Ah hab ich am Leben gelassen.« »Dann kannten Sie meine Vorfahrin also, hatten mit ihr zu tun?« fragte das Mädchen, deren Neugier sogleich über die Furcht siegte. »Was ist mit ihr passiert?« Die Glua lachte: »Immer langsam, meine Kleine!« zischte sie. »Mit der Zeit wirst du schon noch erfahren, was du wissen willst.« Sie setzte den Tiger wieder auf die Erde. »Du scheinst dich gut auszukennen«, sagte Achr. »Wenn du wirklich so allmächtig bist, wie es scheint, dann hilf mir zurück ins Zauberland. Bestimmt weißt du über die Tür in dem unterirdischen Gang Bescheid, die sich damals so unerwartet vor mir geöffnet hat.« »Natürlich weiß ich, was es mit dieser Tür auf sich hat«, erwiderte die Glua. »Aber ein zweites Mal wird es dir nicht gelingen, dort hindurchzuschlüpfen.« »Und weshalb nicht?« fragte der Tiger unzufrieden. »Nimmst du etwa an, ich sei hier unten im Land der Uiden dicker geworden?« »Ganz und gar nicht!« Die Schlange lachte zischelnd. »Aber die Tür gibt nur dem den Weg frei, der eine Wandlung vom Bösen zum Guten durchmacht. Erinnere dich, was du seinerzeit in deiner Todesangst gedacht hast. Weißt du es noch?« Natürlich wußte Achr das. Die furchtbaren Minuten im unterirdischen Gang, als er fast am Staub erstickt wäre, würde er nie vergessen! »Ich habe daran gedacht, daß mein Streit mit den Löwen unsinnig war und daß wir uns in Zukunft besser vertragen sollten«, brummte er. »Stimmt«, bestätigte die Schlange. »Du hast dich besonnen, wenn auch erst im letzten Augenblick. Die unsichtbare Wand hat sich geöffnet, weil du einsichtig warst. Doch dieses Wunder geschieht nur einmal. Zur Rückkehr steht dir dieser Weg nicht mehr zur Verfügung.« Der Tiger legte betrübt den Kopf auf die Vorderpfoten. Das Mädchen Ah beugte sich über ihn und strich ihm tröstend übers Fell. »Sei nicht traurig, Achr«, sagte sie beschwörend, »wir werden einen anderen Weg zurück ins Zauberland finden, Glua wird uns bestimmt dabei helfen.« Sie schaute die Schlange bittend an. »Nun ja, der Dunkle Fluß hat zum Glück keine Ahnung von dieser Geschichte«, murmelte die Glua kaum hörbar. »Also wird er mich auch nicht hindern, etwas zu unternehmen.« Und lauter: »In Ordnung, ihr könnt auf mich zählen. Es gibt tatsächlich einen anderen Weg nach oben.« »Aber wo ist er?« rief das Mädchen aufgeregt. »Ich kenne das Tal der Uiden wie meine Jackentasche, habe aber nirgends auch nur das kleinste Schlupfloch entdeckt. Oder sind alle Türen nach draußen verzaubert wie der unterirdische Gang, den Achr benutzt hat?« »Und was ist mit dem Dunklen Fluß?« erinnerte die Glua. »Du hast dem Tiger selbst erzählt, daß niemand weiß, wo er seinen Anfang nimmt und wo er endet!« »Der Fluß? Ich kann doch gar nicht schwimmen!« sagte das Mädchen erschrocken. »Und das Wasser ist so tief, so reißend.« Der Tiger war gleichfalls wenig begeistert, schwimmen zu müssen. Wie alle Katzen, machte er sich das Fell nur ungern naß. »Dafür schwimme ich wie ein Fisch«, sagte aufmunternd die Schlange. »Einen anderen Weg aus dem Unterirdischen Reich gibt es nicht!« Sie setzte sich wieder in Bewegung, glitt zurück zum Fluß. Ah und Achr folgten ihr. Zum erstenmal in ihrem Leben trat das Mädchen ganz dicht an den Fluß heran. Doch sie bemerkte die rasante Strömung und bekam noch mehr Angst. Der Tiger streckte vorsichtig eine Pfote ins Naß, schüttelte angewidert die Tropfen ab und wich zurück. Dieser Strom flößte ihm keinerlei Vertrauen ein. Nur die Glua fühlte sich ausgezeichnet. Sie glitt elegant in die Fluten, wobei sie ihren Körper ringförmig aufrollte, bis nur noch die Schwanzspitze an Land war. Der Kopf dagegen ragte ein Stück aus dem Wasser. Sie spornte die beiden an: »Na los, nur Mut, ihr braucht keine Furcht zu haben!« Bevor sie es sich versehen hatten, wurden das Mädchen und der Tiger mit der Schwanzspitze in das Nest aus Ringen befördert, das die Schlange für sie gebildet hatte. Sie saßen darin wie in einem runden Gummiboot. Zielstrebig ging es stromabwärts, fort aus dem Tal der Uiden. »Oje, ich habe nicht einmal meinen Eltern Bescheid gesagt!« rief das Mädchen ein bißchen verspätet. Doch das Boot, das die allmächtige Glua aus ihrem Körper geformt hatte, befand sich bereits in der Mitte des Dunklen Flusses. Obwohl die Schlange ihre Körperringe so fest wie möglich aneinanderpreßte, sickerte Wasser durch einige Ritzen und füllte das Boot allmählich. Es reichte Ah, die auf dem obersten Ring saß, schon fast bis an die Knie. Achr aber sah sich genötigt, wie eine Katze auf den Armen des Mädchens Zuflucht zu suchen. Anfangs hatte er sich mit seinen Krallen selber am Bootsrand festgehalten, doch das kitzelte die Glua. »Wenn du das nicht läßt«, drohte sie, »rolle ich mich auseinander, und dann könnt ihr zusehn, wie ihr ins Zauberland kommt.« »Aber dein Boot ist ziemlich löchrig«, nahm Ah ihren Freund in Schutz. »Wenn das so weitergeht, finden wir uns sowieso im Wasser wieder.« »Keine Bange«, sagte die Schlange beschwichtigend, »höher steigt das Wasser nicht. Nasse Füße mußt du allerdings in Kauf nehmen.« Die Glua schwamm, den Kopf hoch aufgereckt, wie ein Schwan. Allmählich richteten sie sich ein. Ah und der Tiger wurden mutiger, klammerten sich jetzt weniger ängstlich aneinander und hielten neugierig nach allen Seiten Ausschau. DIE BEGEGNUNG MIT ARACHNA Das Tal der Uiden lag mittlerweile weit hinter ihnen, die Ufer waren höher und schroffer geworden. Das Wasser, zwischen Felswänden eingezwängt, strömte nun schneller dahin. Weiter vorn aber teilte sich der Dunkle Fluß in zwei Arme. Die drei glitten genau auf eine Insel zu, die in der Mitte lag und ihn spaltete. Die Glua kannte diese Stelle ganz offensichtlich, denn sie schwenkte mit ihren beiden Gästen zielstrebig nach rechts ab. Als sie auf Höhe der Insel waren, bot sich ihnen ein Anblick, der den Tiger an heimische Gefilde erinnerte: Das Eiland hatte jetzt flache sandige Ufer, und überall waren mächtige Findlinge verstreut. Direkt am Wasser aber stand eine riesengroße Frau. Ihre langen, aufgelösten Haare flatterten im Wind, und ihre Augen waren unverwandt auf die Ankömmlinge gerichtet. Selbst aus dieser Entfernung konnte man die Bosheit und Arglist in ihrem Blick erkennen, der jetzt allerdings auch Erstaunen und unverhohlene Freude ausdrückte. Die Riesin fuchtelte mit den Armen und schrie, wobei sie zwischendurch drohend die Fäuste schüttelte: »Zu Hi-ilfe! Rettet mich! Ihr sollt mich mitnehmen!« Obwohl Ah dieser Frau noch niemals begegnet war, spürte sie, daß es sich um keine völlig Fremde handelte. Schon allein wegen ihrer Körpermaße gehörte sie eindeutig zum Stamme der Uiden. Soll das etwa die sagenumwobene Urahnin sein, die vor langer Zeit auf so geheimnisvolle Weise verschwunden ist? dachte das Mädchen. Wie hat sie bloß die Jahrhunderte überlebt? Wär schon nicht schlecht, sich mal mit ihr zu unterhalten. Die Riesin beugte sich, als das Boot vorbeiglitt, blitzschnell herüber und versuchte, danach zu greifen. Die Glua schüttelte energisch den Kopf und wich scharf zur Seite aus. Durch diese heftige Bewegung drehte sie sich samt ihren Gästen und stand nun quer zur Strömung. Um sich wieder in Fahrtrichtung zu bringen, schlug sie heftig mit dem Schwanz, doch darauf hatte die Riesin nur gewartet. Sie packte den Schwanz der Schlange mit beiden Händen und rief triumphierend: »A-a-ah, jetzt kommt ihr mir nicht mehr davon!« Zunächst kämpfte die Frau vergeblich gegen die Glua, die sich ihr energisch widersetzte. Die Schlange war stark, und wahrscheinlich wäre die Riesin unterlegen, hätte sie nicht einen Felsblock entdeckt, um den sie den Schwanz wickeln konnte. Sie verknotete ihn sogar, so daß die Glua gefangen war. Das Boot löste sich Ring um Ring auf. »Haltet euch fest, Kinder«, zischte die Glua, so laut sie konnte, »dieses verdammte Weibsbild rollt mich total auf!« Dieser Warnung hätte es nicht erst bedurft. Das Mädchen und der Tiger klammerten sich verzweifelt an den Hals der Schlange, was jedoch nicht verhinderte, daß sie pudelnaß wurden. Die Glua dachte gar nicht daran, sich der Riesin zu ergeben. Im Gegenteil, jetzt, da sie nicht mehr krampfhaft das Boot zusammenhalten mußte, konnte sie sich voll auf den Kampf mit ihr konzentrieren. Arachna aber – denn es handelte sich in der Tat um die böse Hexe, die der Tiger erwähnt hatte – wollte nichts als zurück zur Erde. Nach ihrem Versuch damals, sich zur Herrscherin über das Zauberland aufzuschwingen, war sie vom Eisernen Ritter Tilli-Willi und dem Riesenadler Karfax besiegt worden. Sie war von der Todesklippe gestürzt, und alle hatten sie für tot gehalten. Warum habe ich sie bloß aufgefangen und auf diese unbewohnte Insel gebracht, dachte die Glua ärgerlich. Das hat man nun von seiner Gutmütigkeit! Damit, daß Arachna die Schlange am Felsen festband, hatte sie ihr jedoch gleichzeitig eine Stütze gegeben. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte gelang es der Glua, den Körper aus dem Fluß zu schleudern, so daß sie wie ein Pfahl über dem Wasser aufragte. Ah und der Tiger mußten das Manöver mitmachen, wurden auf diese Weise aber wenigstens aus dem nassen Element befreit. Der Riesin dagegen gefiel die Sache weniger. Wie sollte sie die Schlange nun zwingen, auf ihre Wünsche einzugehen? Sie würde sich bestimmt bald wieder losreißen. Arachna überlegte fieberhaft, und erfinderisch wie sie war, kam ihr auch eine Idee. Wenn sich das Mädchen und der Tiger am Hals der Glua festhalten konnten, warum dann nicht sie? Schließlich war sie viel stärker. Sie mußte nur den gewaltigen Sprung wagen. Wenn ich die Schlange nicht verfehle, dachte Arachna, hat sie gar keine andere Wahl, als mich mitzunehmen. Der Sprung gelang. Die Schlange, die begriff, was die Riesin beabsichtigte, sah zunächst keine Möglichkeit, sie an Land zurückzuwerfen. Sie würde dabei nur die beiden Passagiere gefährden, die ohnehin alle Mühe hatten, sich an ihrem nassen, glitschigen Hals festzuhalten. Doch dann griff sie zu einer List. Zwei Höcker oben an ihrem Hals formend, zwischen denen sie das Mädchen und den Tiger sicher einbettete, richtete sich die Glua erneut zu voller Höhe auf. Sie hoffte, die Riesin würde keinen Halt mehr finden und abrutschen. Wenn sie nicht vorher absprang, würde sie auf den Stein prallen, an dem sie den Schwanz festgebunden hatte. Das würde ihr eine Lehre sein! Aber die Schlange irrte sich. Arachna verstand sich hervorragend aufs Klettern. Die Riesin umklammerte mit Armen und Beinen den Leib der Glua und kraxelte, statt abzurutschen, behende immer höher. Inzwischen ragten die beiden Halshöcker so hoch in die Luft, daß Ah unter sich kaum noch etwas erkennen konnte. Als die Schlange dann noch mit dem Kopf in eine dichte Wolkendecke über den Felsgipfeln eintauchte, vermochte das Mädchen überhaupt nichts mehr zu sehen. Und erst nachdem die Glua diesen Nebel, der an Schlagsahne erinnerte, durchbrochen hatte, begriff der Tiger plötzlich, wohin es sie verschlagen hatte! »Das ist ja die Todesklippe!« fauchte er mit gesträubtem Fell, denn der Ort war gefürchtet. Aber gleich darauf wurde ihm bewußt, dem Unterirdischen Reich entronnen zu sein und sich nun wieder im Zauberland zu befinden. Alle Bewohner des Zauberlandes kannten diese Klippe, die so furchterregend war, weil sie sich über einem bodenlosen Abgrund erhob. Wie sich nun herausstellte, war dieser Abgrund gar nicht bodenlos! Er führte nur in ein ganz anderes Land, ins Unterirdische Reich der Uiden. Aber da nie jemand lebend dorthin gelangt oder gar zurückgekehrt war, überraschte es auch nicht, daß keiner etwas von der Existenz dieses Reiches wußte. Nur ein Wunder in Gestalt der Großen Glua hatte die Riesin Arachna seinerzeit erretten und dem Tiger Achr jetzt die Rückkehr in seine Heimat ermöglichen können. In seiner Begleitung aber durfte das Uidenmädchen Ah zum erstenmal in ihrem Leben das Oberirdische Reich betrachten: den blauen Himmel, die orangen leuchtende Sonne, die Berge im Licht, die Wälder und die Große Wüste. Zweifelsohne hätte das Zauberland den Tiger Achr mit Vergnügen wieder aufgenommen, zumal er jetzt geläutert war. Auch den Gast aus dem Unterirdischen Reich der Uiden, das Mädchen Ah, hätte es willkommen geheißen. Die Riesin Arachna dagegen wünschte man dort ganz bestimmt nicht wiederzusehen. Aber leider hielt sich die Hexe nicht daran und tat alles, gleichfalls nach oben zu gelangen. Die Glua hatte sich zu ihrer ganzen Größe aufgerichtet, um die beiden Passagiere auf der Todesklippe abzusetzen. Sie vibrierte vor Anspannung wie eine straff gespannte Saite, ihr Kopf beschrieb gewaltige Kreise in der Luft, so daß es den Tiger und das Mädchen um ein Haar gegen den Felsen geschlagen hätte. Das aber hinderte Arachna nicht daran, wie eine Riesenraupe am Körper der Schlange emporzuklettern. Sie erinnerte sich, daß sie vor langer, langer Zeit von diesem Felsen in die Tiefe gestürzt und auf wundersame Weise von der Großen Glua mitten im Fluge aufgefangen worden war. Deshalb hoffte sie, auf demselben Wege, nur eben in umgekehrter Richtung, wieder zurück ins Zauberland zu gelangen, wo sie neue Bosheiten ersinnen und sich wie früher vom Volk der Zwerge bedienen lassen konnte. Endlich hatte die Glua es geschafft, Ah und den Tiger weich auf dem Gipfel der Todesklippe abzusetzen. Sie wollten sich gerade voneinander verabschieden, als urplötzlich die Riesin aus der weißen Wolkenschicht auftauchte. Nicht mehr lange, und sie würde gleichfalls den Gipfel erreichen! »Lauft schnell weg!« zischte die Glua. Dann schleuderte sie Arachna mit einer letzten Kraftanstrengung gegen die Felswand. Die Schlange war so erschöpft von all diesen Mühen, daß sie gleich darauf entkräftet in sich zusammenfiel. Bloß gut, daß Arachna meinen Schwanz am Uferstein festgebunden hat, dachte sie, ich würde in den Fluten ertrinken. DIE VERFOLGUNG Alles ging so furchtbar schnell, daß keiner der Beteiligten auch nur zum Luftholen kam. Ehe sie sich’s versahen, war die Schlange wieder in dem milchigen Nebel versunken, das Mädchen und der Säbelzahntiger lagen auf dem flachen Plateau der Todesklippe, während die Riesin wie betäubt den steinigen Abhang hinunterrollte. Nun waren sie ganz auf sich gestellt. Das Mädchen Ah sprang sofort auf die Beine und schaute sich mit großen, vor Staunen weit geöffneten Augen in der neuen, für sie völlig ungewohnten Umgebung um. Ihr wäre nie und nimmer in den Sinn gekommen, daß ihr hier, in dieser freundlichen Welt, eine Gefahr drohen könnte. Die Begeisterung des Tigers dagegen hielt sich in Grenzen. Zwar freute er sich, wieder zu Hause zu sein, doch sein Raubtierinstinkt blieb wach und ließ ihn zunächst vorsichtig nach allen Seiten spähen. Er entdeckte schnell die Riesin, die reglos auf dem Abhang lag, und er mißtraute dieser Reglosigkeit; schließlich war Arachna für ihre Hinterlist bekannt. Er selbst würde mit ihr ja noch einigermaßen fertig werden, doch das arglose Mädchen Ah war ihr ausgeliefert. Er kannte die Geschichte vom Gelben Nebel und wußte, wozu die Riesin fähig war. Ihr mißfiel bestimmt, daß es Augenzeugen für ihre schmachvolle Ankunft im Zauberland gab, und gewiß wollte sie so lange wie möglich unentdeckt bleiben, um neue Gemeinheiten auszuhecken. Also würde sie alles daran setzen, ihn und Ah auszuschalten, damit niemand etwas von ihrer Anwesenheit verraten konnte. Achr war also zur Verteidigung bereit, klopfte mit der Schwanzspitze schon ungeduldig auf die Erde. Doch die Riesin am Abhang dachte vorerst nicht daran, über sie herzufallen! Es sah eher so aus, als würde sie an gar nichts denken. Sie regte sich nicht, gab keinerlei Lebenszeichen von sich. Vielleicht ist sie tot? sagte sich der Tiger hoffnungsvoll, und einen solchen Gedanken konnte man ihm fast nicht verübeln. Ah dagegen schlug vor Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammen und rannte schnurstracks zu der Riesin. »Laß mich los«, protestierte Ah, »vielleicht braucht sie unsere Hilfe!« »Aber Arachna ist böse und gefährlich.« »Erst einmal müssen wir feststellen, ob sie sich verletzt hat.« »Na gut, aber dann geh ich voran«, erklärte der Tiger entschieden. Er staunte selber, wie nachgiebig er geworden war. Achr sprang voraus und näherte sich behutsam der Riesin. Arachna lag tatsächlich in einer tiefen Ohnmacht. Sie hatte sich beim Klettern total verausgabt, und der Aufprall auf die Steine hatte ihr das Bewußtsein genommen. Doch sie atmete, und von einer Verletzung war nichts zu sehen. »Ich denke, wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden«, beharrte Achr, »schließlich hat uns auch die Schlange Glua zur Flucht geraten. Wacht Arachna erst mal auf, ist es womöglich zu spät. Außerdem wird sich ihre Ankunft ohnehin bald herumsprechen. Im Zauberland wachen Tausende von Augen und Ohren über alles, was geschieht. In der Luft kreisen die Riesenadler mit Karfax an der Spitze, und es gibt die Vogelpost der Krähe Kaggi-Karr. Auf dem Boden wiederum sind die Zwerge allgegenwärtig; sie tarnen sich so geschickt, daß man sie selbst bei genauem Hinschauen nicht entdeckt. Unter der Erde schließlich tummelt sich das Mäusevolk der Königin Ramina.« Wer wußte besser als die einstige Raubkatze Achr, daß die Bewohner des Zauberlandes stets auf der Hut vor allen möglichen Feinden waren. Ah sah unschlüssig den Tiger an, dessen Fell sich vor Besorgnis sträubte, dann richtete sie den Blick wieder auf Arachna. Die Zauberin lag schmutzig und mit wirrem Haar noch immer leblos da, ihr Gesicht wirkte trotz der Ohnmacht böse und hinterhältig. Achr hat recht, dachte das Mädchen, er kennt die Riesin besser als ich und weiß, wozu sie fähig ist. Außerdem stimmt es ja, bisher habe ich nur Schlechtes über sie gehört! Deshalb sagte sie entschlossen: »Also gut, laß uns fliehen. Doch wir wollen dem ersten, dem wir begegnen, mitteilen, daß hier am Abhang eine Frau liegt, die Hilfe braucht.« Der Tiger war einverstanden. Er wollte die Bewohner des Zauberlandes ja gleichfalls von der Ankunft der Hexe in Kenntnis setzen. Sollten sie selbst entscheiden, wie sie mit ihr verfuhren. Doch plötzlich hielt er in seinen Überlegungen inne und dachte verwirrt: Aber wo soll ich überhaupt hin? Die Leute hier werden mich nicht gerade mit offenen Armen empfangen, denn sie kennen mich ja nur als gefährlichen Räuber. Außerdem bin ich in Begleitung eines Riesenmädchens, das dazu noch Ähnlichkeit mit Arachna besitzt. Meine Chancen werden sich dadurch bestimmt nicht verbessern. Achr seufzte bekümmert. Wär schon nicht übel, jetzt dem Höhlenlöwen Grau und den fünf Säbelzahntigern zu begegnen, dachte er. Mit denen würde ich sicherlich eine gemeinsame Sprache finden… Genau, das war es! Die Löwen und das Rudel waren zur Grenze zwischen dem Zauberland und der Großen Wüste aufgebrochen, wo sich der Tunnel zum Planeten Rameria befand; der Tiger hatte sie damals belauscht. Dort waren die Ramerianer mit Grau gelandet, dorthin waren der Tapfere Löwe, der Eiserne Holzfäller, der Weise Scheuch und die anderen Bewohner des Zauberlandes geeilt. Auch der Drache Oicho hatte diesen Ort angeflogen, immer aufs neue schwer beladen mit irgendwelchem Gerät. Wie die Vögel erzählten, wollten die Außerirdischen ein Schiff bauen. Alles klar, sagte sich Achr. Wenn schon vor Arachna fliehen, dann dorthin! Die Truppe, die sich da versammelt hat, ist so groß, daß sie es sogar mit der Riesin aufnehmen kann. Falls es ihr in den Sinn kommt, Ah und mich zu verfolgen. Nun war er etwas zuversichtlicher. Er warf einen letzten prüfenden Blick auf die Hexe und lief los. Das Mädchen schloß sich ihm an. Sie hatten einen mehrstündigen Weg vor sich, der über steinige Pfade immer bergab führte. Für Achr war die Strecke nicht besonders schwierig, er hatte nur Sorge, Ah könnte stolpern oder gar abrutschen. Doch schon bald stellte er beruhigt fest, daß die kleine Uidin ganz hervorragend mit dem felsigen Grund zurechtkam. Aufgewachsen im Unterirdischen Reich, war sie mit Gestein und Hügeln bestens vertraut. Das Mädchen selbst aber, vertieft in den Anblick dieser neuen herrlichen Welt, nahm die Schwierigkeiten gar nicht wahr. Unten angelangt, stand sie staunend, ja geradezu hingerissen, vor einer Baumgruppe, und gleich im ersten Wäldchen, das sie erreichten, tat sie sich an Beeren und Früchten gütlich, die hier in großen Mengen wuchsen. Achr durchstreifte inzwischen das Unterholz und kam nach einer Weile gleichfalls zufrieden zurück. Er leckte sich noch die Lippen von dem schmackhaften Braten, den er ergattert hatte. Bald darauf gelangten sie an einen Bach mit kristallklarem Wasser, und der Tiger wußte, daß es bis zu ihrem Ziel nicht mehr weit war. Plötzlich vernahmen sie einen gewaltigen Schrei, der als Echo von Berg zu Berg widerhallte. Wie angewurzelt blieben die beiden stehen und schauten sich um. Arachna war wieder zu sich gekommen, hatte sich an Ah und den Tiger erinnert und die Verfolgung aufgenommen. Sie eilte mit Riesenschritten, ohne auf Hindernisse zu achten, den Berg hinunter und riß dabei ganze Geröllawinen mit sich. Wie sie so, über die Spalten und Felsvorsprünge setzend, zielstrebig näherkam, erinnerte sie an eine Gewitterwolke, die wenig Gutes verhieß. »Bloß weg hier!« rief der Tiger dem Mädchen zu und sauste los. Ah, die nicht seine Sprungkraft besaß, aber größere Schritte machen konnte, folgte ihm ohne Schwierigkeiten. Es war eine Art Wettrennen zwischen ungleichen Gegnern, denn Arachna hatte sich schnell von den erlittenen Strapazen erholt. Unter anderen Bedingungen hätte es dem Mädchen sogar Spaß gemacht, frei dahinzulaufen, nicht überall an Grenzen zu stoßen wie in ihrem unterirdischen Tal. So dagegen überwog die Furcht. Obwohl ihr andererseits nicht in den Sinn wollte, daß eine aus ihrem Stamm etwas Schlimmes mit ihnen vorhaben sollte. Die Riesin kam immer näher, im allgemeinen gewann sie solche Wettrennen. Achr, der nach Verbündeten Ausschau hielt, spornte seine Freundin noch mehr an, denn sie mußten gleich am Ziel sein. Aber wo blieben der Tapfere Löwe, der Höhlenlöwe Grau, der gewaltige Drache Oicho? Niemand, nicht einmal ein Tiger seines ehemaligen Rudels, war zu sehen. Armer Achr! Woher hätte er wissen sollen, daß der Katamaran »Arsak« längst fertiggestellt und auf große Fahrt gegangen war. Mit Kau-Ruck und Sor von der Rameria, durch die Große Wüste nach Kansas zu den Farmersleuten Smith. Dort hatte sich Chris, der Sohn der berühmten »Fee des Tötenden Häuschens« Elli, zu ihnen gesellt, und gemeinsam waren sie zum Golf von Mexiko aufgebrochen, um dort nach dem Einbeinigen Seemann Charlie Black zu suchen. Dieser alte Seebär war ja mit seinem Schiff auf ein Korallenriff gelaufen und gesunken. Doch auch der Höhlenlöwe Grau mit seinen Säbelzahntigern war weit weg. Die Tiere hatten längst Abschied von den Bewohnern des Zauberlandes genommen, die damals ihre Zelte am Bauplatz aufgeschlagen hatten und jetzt in einem abgelegenen Wäldchen lebten. Sie hätten im Kampf gegen Arachna allein allerdings sowieso nichts ausrichten können. Dazu hätten sie wenigstens den Eisernen Ritter Tilli-Willi gebraucht. In der Ferne tauchte der Schwarze Stein des Zauberers Hurrikap auf, den der Tiger unbedingt erreichen wollte, weil dort der Eingang zum Tunnel war. Arachna hatte inzwischen den Berg hinter sich gelassen und war ihnen dicht auf den Fersen. Sie sprühte vor Zorn, daß die beiden ihr zu entkommen drohten. Wenn sie Achr und Ah nicht wieder einfing, würde bald jeder im Zauberland von ihrer Rückkehr wissen. Dabei hatte sie doch vor, seine aufsässigen Bewohner, all diese Käuer, Zwinkerer und Springer, ein für allemal zu unterwerfen. Schnell und ohne daß sie eine Ahnung von der Gefahr bekamen, sollte das gehen. Deshalb mußte sie den Tiger und das Mädchen um jeden Preis schnappen und zu sich in ihre alte Höhle bringen. Dort hausten ihre einstigen Diener, die Zwerge, die ihre Herrin ordentlich aufpäppeln würden. Sobald sie sich dann von allen Strapazen erholt hatte, würde sie ans Werk gehen. Die beiden da vorn konnte Arachna übrigens gut für ihre Pläne gebrauchen. Sie hatte in Ah ihre Stammesgenossin erkannt und hoffte, sie ohne Mühe zur Mithilfe zu gewinnen. Auch Achr war gewiß kein Problem, sie glaubte seinen hinterhältigen Charakter genügend zu kennen. Das Tierchen würde sich bestimmt nicht lange bitten lassen, würde ihr seine Gefolgschaft nicht verweigern! Schade, daß sie nicht schon früher auf die Idee gekommen war, das Rudel der Säbelzahntiger für ihre Ziele einzuspannen. Achr wendete inzwischen den Kopf gehetzt nach allen Seiten, in der Hoffnung, einen Menschen oder ein Tier zu entdecken. Doch vergeblich, die Gegend war wie ausgestorben. Was sollte er bloß machen? Fast hatte die Riesin sie schon eingeholt, ihr Hohnlachen klang ihm dröhnend in den Ohren: »Gleich hab ich euch, meine Täubchen, wartet nur!« »Na los«, rief Achr in letzter Not dem Mädchen zu, »beeil dich, lauf zu dem großen schwarzen Stein dort drüben und klettre hinauf!« Ah wußte nichts von Hurrikap und dem Tunnel zur Rameria, dennoch folgte sie der Aufforderung. Die Worte der Hexe klangen wirklich nicht freundlich. Sie erreichte den Stein und sprang hinauf. Achr aber half ihr, indem er sich der Riesin jäh in den Weg stellte. Er ließ sein lautestes Brüllen hören und sprang sie mit aller Kraft an. Dabei schnappte er nach ihrem Finger, so daß sie erschrocken zurückprallte und sich aufs Hinterteil setzte. »Bleib schön hier sitzen, du alte Hexe«, fauchte der Tiger und jagte dem Mädchen hinterher. »Das wirst du mir büßen!« schrie Arachna wütend und rappelte sich wieder auf. Mit zwei, drei Schritten hatte sie Hurrikaps Stein erreicht, doch die beiden waren wie vom Erdboden verschluckt. ARACHNAS TRAUM Die Riesin schüttelte ungläubig den Kopf. Sie traute ihren Augen nicht und beschloß deshalb, sich mit den Händen davon zu überzeugen, daß tatsächlich niemand mehr da war. Der mächtige Stein des Zauberers Hurrikap reichte ihr gerade mal bis zur Hüfte, und sie begann ihn abzutasten. Doch mit einemmal wurde sie von einem Sog erfaßt. Die Oberfläche des Felsbrockens gab nach, und obwohl Arachna verzweifelt Widerstand leistete, stürzte sie kopfüber in einen steinernen Tunnel. Es war ja, wie wir aus früheren Geschichten über das Zauberland wissen, die Eigenart dieses verhexten Steins, jeden anzuziehen, der sich ihm näherte. Die Öffnung oben, die den Eingang zum Tunnel bildete, war für das Auge unsichtbar, der Schacht selber aber verband die Erde mit einem fernen Planeten, der Rameria. Ein Abzweig führte durch das sogenannte Elmenland sogar noch zur Irena, einem zweiten Himmelskörper. Das Mädchen Ah und der Tiger Achr waren ebenfalls in den Tunnel gerutscht, hatten jedoch einen gehörigen Vorsprung. An eine Verfolgung durch die boshafte Arachna war deshalb nicht mehr zu denken. Doch wie sich herausstellte, besaß der geheimnisvolle Stein noch eine andere Eigenschaft. Es war, als würde er mitsamt dem Schacht plötzlich verschwinden, sich in Luft auflösen. Im Moment, da die drei in ihn eingetaucht waren, setzte er sich in Bewegung und entführte die Riesin – nicht etwa zu einem fremden Planeten, sondern in die Vergangenheit! Der Tunnel reichte auf einmal um Tausende von Jahren bis in eine längst entschwundene Zeit zurück. Dort wurde Arachna, die als letzte geschluckt worden war, jäh wieder ausgespuckt. Das alles aber geschah so unvermutet und schnell, daß sie nicht das geringste von dem ganzen Vorgang begriff. Der Tiger und das Mädchen Ah eilten – so viel sei schon jetzt verraten – gleichfalls in die Vergangenheit, unverhofften Abenteuern entgegen. Sie trafen erneut auf die Schlange Glua und, wer würde es für möglich halten, sogar auf den Großen Zauberer Hurrikap! Arachna aber wurde mit ziemlicher Wucht in die Höhe geschleudert und plumpste wie ein Mehlsack zu Boden. Ihren Fliegenden Teppich, auf dem sie im Zauberland durch die Lüfte gesegelt war, ohne abzustürzen, hatte sie hier ja nicht zur Verfügung. Beim Aufschlag prallte sie mit dem Kopf gegen einen Felsen und verlor die Besinnung. Sie lag eine ganze Weile in einem schlimmen Dämmerzustand zwischen Wachen und Träumen, konnte sich nicht vorstellen, wo sie war. Sie hatte überall blaue Flecken. Von dem Sturz taten ihr sämtliche Knochen weh, und der Boden, auf dem sie lag, war hart und steinig. Sie hätte sich gern erhoben, vermochte es aber nicht. Dann drangen unvermutet längst vergessene Bilder auf sie ein. Es waren Erinnerungen, aber nicht etwa aus dem Zauberland, sondern aus einer unendlich fernen Vergangenheit. Sie war noch ein Kind, vielleicht so groß wie Ah, der sie vorhin nachgejagt war, und befand sich in einer weiten ebenen Landschaft. Berge ragten in der Ferne auf, riesige Steinblöcke lagen herum, und hinter einem Felsen hervor kam plötzlich eine Riesin auf sie zugerannt, die noch viel größer war als sie selbst. Sie gebärdete sich höchst unfreundlich, drohte ihr und schimpfte so laut, wie es Arachna lange nicht mehr erlebt hatte: »Nichtsnutziges Ding, Schmutzfink, Rumtreiberin, findest du dich endlich wieder zu Hause ein! Wo hast du so lange gesteckt, und was hast du in der Zwischenzeit angestellt? Dir werd ich zeigen, daß du zu gehorchen hast!« Sie fiel mit Püffen und Nasenstübern über Arachna her, von denen die schwächsten einem Kamel hätten die Höcker brechen können. Arachna, völlig verblüfft, träumte weiter, daß sie aufsprang und sich ihrer Haut zu wehren begann, sich gegen die Schläge der anderen verteidigte. »Was willst du von mir, weshalb verprügelst du mich«, rief sie, »ich habe dir nichts getan, ich kenne dich ja gar nicht!« Doch das stimmte nicht, sie hatte selbst das Gefühl, diese Frau schon gesehen zu haben, und die Riesin brach auch gleich in ein Hohngelächter aus: »Ich hör wohl nicht recht, mein Täubchen«, schrie sie, »du willst mich, deine leibliche Mutter Karena, nicht kennen?! Das ist der größte Blödsinn und die dümmste Behauptung, die mir je untergekommen sind. Du bist das mißratenste kleine Biest, das auf Erden herumläuft, auch wenn du ständig deine Unschuld beteuerst. Du bist genauso hinterlistig wie dein Vater Arachn, den ich glücklicherweise verlassen habe, bevor du zur Welt kamst!« Arachna war regelrecht betäubt von diesem Wortschwall, und während die Frau weiterblaffte, sie erneut zu packen und schütteln versuchte, überlegte sie fieberhaft, was an der Geschichte wahr sein könnte. Ja, es stimmte, auch sie war einst ein kleines Mädchen gewesen, hatte eine Mutter gehabt, die mit ihr schimpfte und mit der sie sich stritt. Von der sie oft weglief, sich irgendwo versteckte. Eine große starke Riesin, wie diese hier, mit denselben Händen, denselben Gesichtszügen. Arachnas Kopf brummte wie ein siedender Kupferkessel, doch der Traum brachte ihr immer neue Erinnerungen. An ein Land, in dem es rauh und unwirtlich war und wo es zwei Mühlen gab, die ständig Lärm machten. An eine Schlucht, über der stets dicke gelbe Wolken standen, und an ein riesiges steinernes Schloß, in dem sie und ihre Mutter Karena zu Hause waren. Wirklich, es war beeindruckend, dieses Schloß mit seinen starken Mauern und dem hohen Turm. Von weitem glich es einem einfachen Felsen, war jedoch meisterhaft aus einem einzigen Granitblock herausgehauen. Je näher man diesem Felsen kam, desto deutlicher wurde, daß es sich um eine gewaltige Wohnstatt handelte. Man konnte sie gut und gern mit den majestätischen Ritterburgen des Mittelalters vergleichen, nur daß sie noch viel wuchtiger war. Zwar fehlte dem Schloß etwas die Eleganz, und es hatte keinerlei Schnörkel oder Verzierungen, dafür war es aber umso fester und stabiler. Das Schloß hatte mehrere Säle und Schlafgemächer, lange dunkle Gänge und Gewölbe, in denen Arachna sich versteckte, wenn es wieder mal Krach gab. Und dann – richtig – waren da auch noch winzig kleine Gestalten, die überall herumrannten, in den Räumen, auf den Fluren und auf dem Vorplatz, so daß man höllisch aufpassen mußte, um keine von ihnen versehentlich zu zertreten. Natürlich, das waren die Zwerge, von denen auf Arachnas Handfläche bequem ein Dutzend Platz gefunden hätten. Sie waren die Untergebenen Karenas, dienten ihr, sorgten dafür, daß die Riesin und ihre Tochter immer gut versorgt waren. Denn ungeachtet ihres geringen Wuchses, waren diese Wichte ganz normale und vor allem fleißige Leute. Sie erfüllten ernsthaft ihre Aufgaben und besaßen einen so natürlichen Stolz, daß Arachna überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen wäre, sich über sie lustig zu machen. Ja, die Zwerge – Männer, Frauen und sogar Kinder – waren stets dagewesen, wenn man sie brauchte. Unter ihnen gab es nicht nur Jäger und Landwirte, Erzgräber und Schatzsucher, Zimmerleute und geschickte Kunstschmiede, sie verstanden sich auch bestens auf die Hauswirtschaft, konnten ausgezeichnet kochen und backen. In ihrem Traum sah Arachna, die langsam aus ihrer Betäubung erwachte und im Unterbewußtsein merkte, daß ihr ungeheuer der Magen knurrte, die kleinen Kerle, wie sie Pfannen und Töpfe herbeischleppten. Sie brachten Brot, Fleisch, Kuchen und Wein, und das Mahl war so üppig, daß der Hexe aus dem Zauberland das Wasser im Mund zusammenlief. DAS LAND TAUREKIEN Doch was Arachna für einen Traum gehalten hatte, war bis zu einem gewissen Grad durchaus Wirklichkeit. Der Schwarze Stein des Hurrikap hatte sie tatsächlich ins Land ihrer Mutter Karena zurückgetragen. Vor Tausenden von Jahren, das ist in einem früheren Buch beschrieben, war sie von dort hergekommen, hatte großes Unglück über die anderen Bewohner des Zauberlandes gebracht. Nun war sie in ihre Kinderzeit zurückversetzt worden und in eine Lage geraten, die sie unmöglich hatte vorhersehen können. Denn zwischen der herrschsüchtigen Riesin Karena und den sanftmütigen Zwergen stand es in diesen Tagen ganz und gar nicht zum besten. Die Zwerge waren die Ureinwohner dieses Landstrichs, sie hatten ihr Reich Taurekien genannt und bezeichneten sich selbst als Taureker. Keiner von ihnen hätte freilich sagen können, wann Karena in dieser Gegend aufgetaucht war. Dabei hielten sie das Andenken an ihre Vorfahren sehr hoch, führten eine genaue Chronik über sämtliche Geschehnisse. Da aber niemand mehr wußte, wie lange die Riesin hier lebte, meinten die Zwerge, daß es schon immer so gewesen sei und sie folglich seit jeher ihre Untertanen wären. Deshalb hätten sie es auch hingenommen, ihr zu dienen, wäre Karena nicht so böse, zänkisch und aufbrausend gewesen. Gutmütig wie diese kleinen Menschen waren, hätten sie ihr sogar freiwillig Gefolgschaft geleistet, hätte sich nicht ihr ganzer Stolz gegen die strenge, ungerechte Behandlung aufgebäumt, die ihnen widerfuhr. Karena bestrafte sie nämlich auf grausame Weise für jede noch so geringe Unachtsamkeit. Doch was sollten sie tun. Gewiß, sie konnten einfach davonlaufen, sich verstecken – die Riesin würde sie ganz bestimmt nicht wiederfinden. Sie waren ja Meister der Tarnung! Wenn sie ihre grauen Capes und Zipfelmützen anlegten, waren sie auf dem steinigen Grund nicht mehr zu sehen. Außerdem gab es unzählige Bodenlöcher, Spalten und Höhlen, in die sie kriechen konnten. Selbst von ihresgleichen waren sie dann kaum zu entdecken, geschweige denn von der Alten aus ihrer gewaltigen Höhe herab. Auf Dauer allerdings konnten sich die Taureker trotz allem nicht verbergen, es entsprach auch nicht ihrer Natur. Das größte Unglück aber sahen sie darin, daß Karena eine garstige Hexe war. Alle möglichen bösen Mächte waren ihr Untertan. Sie kannte unzählige Beschwörungsformeln, verstand es, Unheil und schlimme Krankheiten über die Zwerge zu bringen. Hatte sie jedoch einmal eine Formel vergessen, zog sie ihr großes Zauberbuch zu Rate. Darin war anscheinend alles Ungemach der Welt versammelt. Außerdem besaß Karena einen großen Fliegenden Teppich, an dem wohl Generationen von Taurekern gewirkt hatten. Auf ihm flog sie in regelmäßigen Abständen ihre riesigen Besitztümer ab, um nach dem Rechten zu sehen. Die Taureker dagegen bedienten, solange sie zurückdenken konnten, sowohl eine gewaltige Stein- als auch eine riesige Wassermühle. Sie machten den Lärm, an den sich Arachna in ihrem Traum erinnert hatte. Die Steinmühle zerkleinerte mit ihren von einem mächtigen Rad angetriebenen Mahlsteinen große Felsblöcke zu Staub. Diese Blöcke wurden vorher mühsam von den Felswänden abgeschlagen, die das flache Land Taurekiens umgaben. Auf diese Weise wollte Karena das Tal erweitern und über die Jahrtausende hin mehr Raum für sich schaffen. Das war ihr auch gelungen. Der von den Mahlsteinen aufsteigende gelbe Staub aber wurde über ein ganzes System von Rohrleitungen in die nahegelegene Schlucht gelenkt. Sie war sehr schmal, sehr tief und führte in vielen Windungen in eine unergründliche Ferne. Die Wassermühle beruhte auf dem gleichen Prinzip. Sie wurde nicht etwa von einem Bach oder Fluß angetrieben, sondern schöpfte im Gegenteil Wasser mit vielen kleinen Schaufeleimern aus einem benachbarten See. Von einer unterirdischen Quelle gespeist, hätte dieser See Taurekien längst überschwemmt, wäre er nicht von den Zwergen stets auf dem gleichen Stand gehalten worden. Durch ein ebenfalls ausgeklügeltes Rohrsystem wurde das Wasser dann in die bereits erwähnte Schlucht geleitet. Beide Mühlräder aber wurden allein durch die Kraft der winzigen Menschen in Gang gehalten. Die Stelle nun, wo das Wasser auf den gelben Steinstaub traf, bevor es ihn in die Schlucht hinunterspülte, war bei den Zwergen sehr gefürchtet. Mehr noch, sie war ihnen unheimlich, denn hier bildeten Steinstaub und Flüssigkeit einen dichten gelben Nebel. Er stand Tag und Nacht über der Schlucht und formte bei Wind die seltsamsten, grusligsten Gebilde. Sie erinnerten an Ungeheuer, die unablässig miteinander rangen, sich ineinander verkeilten und gegenseitig auffraßen. Wegen dieser undurchdringlichen Wolken wußte niemand, wie tief die Schlucht war und wie weit sie sich erstreckte. Denn jeder, der es wagte, in den Nebel einzudringen, erstickte darin. Das gleiche Schicksal ereilte übrigens auch alle, die bei ihrer Herrin in Ungnade gefallen waren. Sie wurden ergriffen und kurzerhand in die Schlucht geworfen. Tag für Tag rückten zwei Zwergenheere zu den Mühlen aus. Sie kletterten ins Innere der Räder und ließen sie kreisen, indem sie von einer Strebe zur anderen klommen. Die beiden Zwergentrupps wohnten getrennt, jeder für sich in einer eigenen Siedlung. Sie trugen auch zwei unterschiedliche Namen, die erst zusammengenommen die Bezeichnung des gesamten Zwergenvolkes bildeten. Die einen waren die Tau, die anderen die Reker. Die Tau bedienten die gewaltige Steinmühle, die Reker waren für die große Wassermühle zuständig. Karena hatte diese Trennung einst eingeführt, um die Gruppen gegeneinander ausspielen zu können. Auf ihr spezielles Geheiß hin mußten sich die Zwerge sogar unterschiedlich kleiden – die Tau trugen Gelb, die Reker Blau. Jede Stammesgruppe besaß ihren Ältesten. Den Tau stand ein gewisser Kastao vor, ein Männchen mit üppigem Bart, die Reker dagegen wurden von Antreno angeführt, dessen Bart zwar nicht ganz so üppig, dafür aber schön lang war. Die zwei waren keineswegs miteinander verfeindet, obwohl die Hexe Karena das ganz gern gesehen hätte. Sie sagte sich, daß es bestimmt besser war, wenn die beiden ihren Zorn gegeneinander richteten als gegen sie und ihre Mühlen. Tau und Reker aber hielten Freundschaft. Sie besuchten sich gegenseitig, feierten gemeinsam, die jungen Männer und Frauen des einen Stammes konnten sogar in den jeweils anderen aufgenommen werden, wenn sie es wünschten. Zu diesem Zweck wechselten sie einfach die Farbe ihrer Kleider und zogen in das andere Lager. All jene Zwerge, die in Karenas Schloß lebten und ihr unmittelbar dienten, trugen graue Gewänder. Sie bildeten keinen gesonderten Stamm, sondern legten morgens, wenn sie zur Arbeit erschienen, lediglich die entsprechende Kleidung an. Die Taureker waren, wie erwähnt, freundliche Wesen, sie hatten ihr Schicksal lange geduldig ertragen, doch nun war der Tag gekommen, da sie den Entschluß faßten, der Hexe Karena den Kampf anzusagen. Zur Nacht, als in beiden Siedlungen die Lichter verloschen waren und sich in Karenas Schloß die Hektik gelegt hatte, die dem Abendbrot und dem Zubettgehen der Hexe voranging, konnte man in einem kleinen Anbau der Steinmühle einen schwachen, rötlich glimmenden Lichtschein erspähen. Die beiden Mühlen ragten düster aus dem nächtlichen Dunkel auf, und wäre jemand mutig genug gewesen, um diese Zeit hierher zu kommen, er hätte durch ein schmales Fenster drei Taureker entdeckt. Sie saßen an einem Feuer, das direkt auf dem Steinfußboden entfacht worden war. Einer von ihnen trug die blaue Tracht der Reker – es war der Älteste Antreno. Der zweite Mann war Kastao, Abgesandter der Tau, und der dritte schließlich, ganz in Grau, war aus dem Schloß herbeigeeilt. Die drei hatten sich hier zusammengefunden, um einen Aufstand gegen Karena vorzubereiten. Beginnen sollte es damit, daß am nächsten Tag niemand zur Arbeit erschien. Die Mühlräder würden zum erstenmal seit vielen hundert Jahren stillstehn. Sie hatten Tag für Tag nach neuer Nahrung, nach immer mehr Steinen und Wasser verlangt, nun war erst einmal Schluß damit. Für die Hexe selbst aber hatten sich die drei Männer eine besondere Überraschung ausgedacht. Wenn sie am Morgen erwachte, sollte sie im Schloß keinen einzigen Diener vorfinden. Das Becken für ihr tägliches Bad würde leer bleiben, das Wasser zum Waschen eiskalt sein. Man würde kein Essen kochen und schon gar nicht die über Nacht ausgekühlten Gemächer heizen. DIE KRIEGSERKLÄRUNG Am nächsten Morgen erwachte Karena von einer Kälte, die sich sogar unter ihr dickes Federbett geschlichen hatte. Sie gähnte, streckte sich und stand fröstelnd auf. Ihre Tochter war nicht da, war nach einem Streit wieder einmal davongelaufen. Sollte sie, der Hunger würde das widerborstige Biest schon heimtreiben. Nach alter Gewohnheit machte Karena ein paar Kniebeugen vor dem Bett, hüpfte ein paarmal auf und ab, um dann, ohne viel Federlesens, ins Badebecken zu springen. Es befand sich direkt im Schlafzimmer und war wunderbar zum Planschen geeignet. Der laute Knall, der ihrem Sprung folgte, hörte sich allerdings an, als sei ein großer Luftballon geplatzt. Karena war voller Wucht auf den Steinboden des Beckens geklatscht, in dem sich diesmal kein Wasser befand! Daß man es nicht gefüllt hatte, war noch nie passiert. »Was habt ihr da gemacht, ihr elenden Wichte!« tobte sie. »Na wartet, ihr Halunken, das werdet ihr mir büßen! Wehe, wenn ich die Schuldigen erwische! Ich werde sie nicht nur in die Staubschlucht werfen lassen, ich werde…« Sie erstickte fast vor Zorn, und ihr fiel nicht gleich ein, wie sie diese Taugenichtse noch bestrafen könnte. »He, Wache!« rief sie schließlich und klatschte dreimal laut in die Hände. »Bringt sofort die Wassergießer zu mir, die für mein Bad zuständig sind. Ich will sie lehren, das Becken nicht zu füllen!« Doch auch nachdem sie ihren Befehl dreimal wiederholt hatte, ließ sich niemand von den Dienern blicken. Nur das Echo hallte vielfach aus allen Ecken des ausgestorbenen Schlosses zurück. »Sieh an«, grollte die Hexe, »diese Gauner machen heute anscheinend blau. Da reißen ja ganz neue Sitten ein.« Karena sprang aus dem Becken und hastete, nur im Nachthemd, durchs ganze Schloß. Sie sauste von ihrem Schlafzimmer im obersten Stockwerk zum Speisesaal und von da bis hinunter in den Keller. »Tatsächlich«, murmelte sie, nun schon ziemlich verblüfft, »keine Zwergenseele!« Sie hatte sich im Laufe der Jahrhunderte total daran gewöhnt, daß man ihr beim Baden und Ankleiden half, ihr Essen und Trinken vorsetzte. Dann rannte sie auf den Vorplatz, doch auch hier lag alles wie ausgestorben da. Weder Menschen noch Tiere weit und breit! Wie sich herausstellte, hatte der Schloßjäger Arkado sogar die Haustiere in die Steppe hinausgescheucht. Das Küchenpersonal aber hatte sämtliche Lebensmittelvorräte in geheimen Gewölben versteckt, von denen Karena nicht die geringste Ahnung hatte. Der Zugang zu diesen Gewölben war so meisterhaft getarnt, daß ihn keiner entdeckte, es sei denn, er wüßte Bescheid. Die Zwerge selbst, die im Schloß dienten, waren in ihre Siedlungen zurückgekehrt. Sie hatten ihre graue Kluft abgelegt und die Kleider ihres Stammes angezogen. Da die Riesin ihre winzigen Untergebenen sowieso nicht auseinanderhalten konnte, würde sie nie jemanden dort finden. Zumal die Taureker ehrliche und stolze Leute waren, die selbst unter Androhung der Todesstrafe keinen der Ihren verraten würden! Karena überlegte kurz und kehrte dann entschlossen ins Schlafzimmer zurück. Sie ging zu ihrem Bett, vor dem ein hübscher Teppich lag. Es war ein Vorleger, der ihr auf angenehme Art die Füße wärmte, wenn sie barfuß aus dem Bett stieg, der aber noch eine andere Eigenschaft besaß. Er vermochte sie über weite Entfernungen zu tragen, denn es war ihr Fliegender Teppich. Die Hexe nahm in der Mitte Platz und befahl ihm, sie zur Siedlung an der Steinmühle zu bringen. Schon von weitem war sie unangenehm von der ungewohnten Stille berührt, die hier herrschte. Weder das Dröhnen der Maschinen im Steinbruch war zu hören noch das Quietschen der Mühlräder. Aber auch die Siedlung selbst wirkte wie ausgestorben. Sie lag still und verlassen da, nur über dem Haus des Ältesten Kastao wehte, laut flatternd, die große gelbe Fahne der Tau im Wind, die lediglich bei bedeutenden oder festlichen Anlässen gehißt wurde. »Zur Wassermühle!« befahl Karena, und der Teppich schwenkte gehorsam zur zweiten Siedlung ab. Dort erwartete sie das gleiche Bild: ein regloses Mühlrad, leere, ausgetrocknete Wasserrohre, und über dem Haus des Ältesten Antreno die blaue Fahne der Reker. »Na wartet, meine Täubchen«, zischte die Hexe unheilvoll, »diese Bummelei wird euch teuer zu stehen kommen! Von nun an laß ich euch noch viel mehr schuften. Tag und Nacht. Ich habe genügend Mittel, euch die Mätzchen auszutreiben. Es wäre doch gelacht, wenn ich euch nicht zwingen könnte, meine Befehle auszuführen!« »Nach Hause, auf dem schnellsten Weg nach Hause!« knurrte Karena ungeduldig und versetzte dem Teppich sogar einen Tritt. Sie konnte es nicht erwarten, wieder ins Schloß zu kommen, wo sich in einem kleinen Geheimversteck ihr berühmtes Buch befand. Darin waren Hunderte von Beschwörungsformeln aufgeschrieben, mit deren Hilfe sie sich die bösen Geister unterwarf und auf die sie jetzt all ihre Hoffnung setzte. Der Teppich brachte Karena sicher nach Hause zurück. Nachdem er vor der Schwelle den Staub abgeschüttelt hatte, der ihm unterwegs zugeflogen war, sauste er, geschickt manövrierend, durch alle Etagen und Flure. Sich an besonders engen Stellen fast zu einem Rohr formend, landete er schließlich an seinem gewohnten Platz vor dem Bett. Das kalte, unaufgeräumte Schlafzimmer wirkte niederdrückend auf Karena, so daß sie plötzlich das Gefühl hatte, die nächsten Jahrtausende einsam und allein, ohne die Diener und sogar ohne ihre Tochter, in diesem menschenleeren, unbehaglichen Schloß zubringen zu müssen. Doch dann fegte sie diesen düsteren Gedanken weg und stürzte in die Zimmerecke, wo sich unter einer der fest verfugten Bodenplatten ihr Geheimfach befand. Sie drückte auf einen Knopf, von dem sie annahm, daß er nur ihr bekannt war. Die Platte, von einer Feder bewegt, glitt zur Seite und gab den Blick auf eine Vertiefung frei. Dort allerdings blühte ihr eine neue Überraschung. Auf einem Seidenkissen lag – nicht etwa das erwartete Buch, sondern lediglich ein kleiner Zettel, ein lumpiges Stück Papier, das die Taureker ihrer Herrin Karena als Botschaft zugedacht hatten. »Verdammt!« heulte die Hexe auf und stampfte in ohnmächtiger Wut mit den Füßen. »Sie haben mein Buch gestohlen! Diebe! Räuber! Banditen!« In ihrem Zorn zerknüllte sie den Zettel, wollte ihn zum Fenster hinauswerfen. Doch es war zu, und so blieb das Papier auf dem Fensterbrett liegen. Karena ließ sich schwer auf den Vorleger plumpsen. Der Teppich jedoch fing sie federnd ab und legte sie behutsam aufs Bett. Da krallte sie sich mit aller Kraft an ihm fest, als könnte auch er plötzlich verschwinden. »Ein Glück, daß diese hinterhältigen Zwerge nur das Buch und nicht auch noch dich gestohlen haben«, sagte die Riesin und sprach zum erstenmal in einem freundlichen Ton mit ihrem treuen Teppich. Allmählich kam sie zur Ruhe. »Na schön«, sagte sie nach einer Weile, »wenn die Zwerge den Krieg wollen, sollen sie ihn haben. Ich bin auch ohne das Buch stark genug, mit diesen Wichten fertig zu werden. Schließlich besitze ich noch eine Geheimwaffe. Es wird Zeit, daß ich sie ausprobiere.« Sie zog sich mit einiger Mühe an, stärkte sich recht und schlecht mit den Essensresten, die sie noch vom Vorabend an ihrem Bett fand. Sie nahm aus dem Krug zum Händewaschen einen Schluck kaltes Wasser und machte sich daran, einen Schlachtplan zu entwerfen. KARENAS RACHE Im Krieg ist es immer günstig, die Pläne des Gegners zu kennen. Karena erinnerte sich, die Botschaft der Zwerge weggeworfen zu haben, deshalb ging sie zum Fenster, um nach dem Zettel zu suchen. Sie entdeckte das zusammengeknüllte Papier, entfaltete es und las: HOCHVEREHRTE HERRIN! Noch nie in der Geschichte der Taureker haben wir aufbegehrt, doch heute wenden wir uns mit einer dringlichen Bitte an Euch. Was wir wünschen, ist nichts weiter, als daß Ihr uns so behandelt, wie es ehrliche und fleißige Leute verdienen. Es steht Euch nicht zu, uns wegen jedes noch so kleinen Vergehens oder einfach nach Eurem Belieben in die Staubschlucht zu werfen. Wir sind zwar klein von Wuchs, aber dennoch lebendige Menschen, die Gerechtigkeit verlangen! Dies ist unsere erste und letzte Bitte. Solltet Ihr dem Wunsch nicht nachkommen, werden die Mühlräder fortan stillstehen. Wir hoffen, daß Ihr uns diese Güte gewährt, und schwören zum Dank dafür, Euch und Euren Nachfahren bis ins siebente Glied zu dienen! Doch erwarten auch wir, daß Ihr schwört, für immer Wort zu halten. Und zwar mit dem Großen Riesenschwur. Voller Achtung verbleiben Kastao, Ältester der Tau Antreno, Ältester der Reker Arkado, Schloßjäger. »Das wäre ja noch schöner!« rief die Riesin, nachdem sie die über alle Maßen ehrerbietige Botschaft zur Kenntnis genommen hatte. »Ihr wißt ja gar nicht, was ihr von mir verlangt. Wie kann ich mir denn gewiß sein, daß ihr die Mühlräder dreht, wenn ich euch nicht bestrafe! Die aber müssen sich bewegen, sonst hat meine Herrschaft keinen Bestand.« Gleich darauf begann sie giftig und höhnisch zu lachen. Den Großen Riesenschwur verlangen diese eingebildeten Taureker! Na ja, immerhin hab ich es geschafft, sie so zu zähmen, daß sie vor mir zittern. Sie haben es nicht einmal gewagt, mir ihr Anliegen persönlich vorzutragen. Sie wissen, wie schrecklich ich in meinem Zorn bin und daß ich sie auf der Stelle zu Staub zermahlen hätte. Karena nahm erneut auf ihrem Teppich Platz und befahl ihm, sie noch einmal zur Steinmühle zu bringen. Unterdessen hatten sich Kastao, Antreno und Arkado in aller Frühe in der Steinmühlensiedlung zusammengefunden, von wo aus sie das Schloß beobachteten. Sie sahen den Fliegenden Teppich vorbeisausen, auf dem drohend die Hexe stand: im Nachthemd, mit wirren, vom Wind gezausten Haaren und einer schauerlichen Grimasse, die nichts Gutes verhieß. Kurze Zeit später bemerkten sie den Teppich abermals über ihrer Siedlung, nur daß Karena inzwischen recht und schlecht angezogen und halbwegs gekämmt war. »Was sie wohl vorhat?« murmelte Kastao, der um die Sicherheit seines Dorfes fürchtete. Der Teppich ging neben der Steinmühle nieder. Eine Zeitlang war von dort kein einziger Laut zu hören. Auch von der Riesin selbst konnten sie nichts entdecken. Plötzlich jedoch war die Luft vom Gedröhn, vom Kreischen und Quietschen der Mahlsteine und Mühlräder erfüllt. Was hatte das zu bedeuten? »Sieht aus, als wollte uns Karena die Arbeit abnehmen«, sagte Kastao spöttisch. Dann wurde er aber wieder ernst und fuhr, an Arkado gewandt, fort: »Wir sollten herauszufinden versuchen, was diese Hexe im Schilde führt.« Arkado ließ sich nicht lange bitten, sondern brach umgehend zur Steinmühle auf. Als Jäger verstand er es ausgezeichnet, sich lautlos zu bewegen. Eine Stunde später tauchte er wie ein Gespenst hinter Kastao und Antreno auf. Er berichtete, daß Karena in der Tat wie besessen und ganz allein große Steinbrocken zu Staub zermahlen, diesen in Säcke füllen und damit den Fliegenden Teppich beladen würde. Die Arbeit ginge ihr so flott von der Hand, als hätte sie ihr Lebtag nichts anderes getan. Antreno, der Stammesälteste der Reker, überlegte. »Ich weiß zwar nicht, was sie vorhat«, ließ er sich nach einer Weile vernehmen, »doch eins ist wohl klar: die Sache schlägt uns nicht zum Guten aus. Ich fürchte, uns Zwergen droht Gefahr.« Karena schuftete den ganzen Tag. Höchstens daß sie einmal auf ihre mißratene Tochter schimpfte, die sich, statt ihr zu helfen, irgendwo in der Ferne herumtrieb. Viele Male flog der Teppich über die Siedlung hinweg in Richtung Schloß, und er war so schwer beladen, daß er fast an den Dächern der Häuser hängenblieb. Allmählich wurden die Taureker von ernster Sorge ergriffen. Sie konnten sich einfach nicht erklären, wofür Karena diese Unmengen gelben Staubs benötigte. Die Hexe selbst aber, erschöpft von der schweren, ungewohnten Arbeit, kehrte erst spät in der Nacht nach Hause zurück. Dort ließ sie sich, angezogen und schmutzig wie sie war, ins Bett fallen. Sie sank in einen unruhigen Schlaf, wälzte sich von einer Seite auf die andere und hustete heftig von all dem Staub, der sich in ihrer Kehle festgesetzt hatte. Kaum daß es dämmerte, erhob sie sich schon wieder, und wie sie so dastand, erinnerte sie an eines der gelben Ungeheuer, die morgens aus der Staubschlucht heraufkrochen. Dann setzte sie sich erneut auf den Fliegenden Teppich und steuerte den See an. Zusammen mit ihrem Gefährt ließ sie sich ins Wasser plumpsen. Das kalte Naß erfrischte die Riesin und verlieh ihr neue Kräfte. Sie planschte im See herum, bis sie blau anlief. Als sie schließlich gewaschen war und auch den Teppich vom dicksten Staub befreit hatte, rief sie, bibbernd vor Kälte, doch triumphierend: »Ihr seid wirklich nicht zu beneiden, meine Täubchen!« Vor Freude über ihren hinterhältigen Plan, mit dem sie sich an den Zwergen rächen wollte, brach sie in ein lautes Hohngelächter aus. Der Teppich schüttelte sich wie ein zottiger Hund, der aus dem Wasser kommt, und brachte seine Herrin in Windeseile zurück zum Schloß. Hier zog sich Karena trockene Kleider an, dann schritt sie zur entscheidenden Tat. Wieder lud sie – zum wievielten Male schon – die randvoll gefüllten Säcke auf den Teppich. Sie hatte ein ganzes Lager von diesem Dreckszeug zusammengetragen und im riesigen Speisesaal gehortet. Der Staub war ihr mehr wert als jeder Goldschatz. »Los geht’s!« befahl sie und lenkte den Teppich nun zur Siedlung an der Wassermühle. Sie war ganz bewußt in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen, damit die Taureker nicht vorzeitig von ihrem Vorhaben Wind bekamen und davonliefen. Die frühen Morgenstunden, in denen die Leute am tiefsten schliefen, waren ihr gerade recht. Karena zog in Gedanken einen riesigen Kreis, der von der Wassermühle über die Geröllsteppe bis hin zur Siedlung der Tau neben der Steinmühle reichte, und machte sich ans Werk. Sie band einen der Säcke auf und begann den gelben Staub auszuschütten, wobei sie den Teppich anwies, möglichst tief zu fliegen. In dicken Schwaden senkte sich der erstickende Schmutz auf die Erde. Ringsum herrschte völlige Stille, auch der Teppich glitt lautlos dahin, und so ahnten die Zwerge, die friedlich in ihren Betten schliefen, nichts von dem Schlag, zu dem die Riesin ausgeholt hatte. Bald schon bildete der Staub über dem Gebiet, das die Hexe auserkoren hatte, eine geschlossene Decke, schnitt als undurchdringlicher gelber Vorhang das Land Taurekien von der übrigen Welt ab. Verbunden mit Wasser, Nebel und dem Morgentau, würde der Schmutz zu einer dichten Masse aufquellen, die sämtliche Senken und Spalten füllte. Nicht mal eine Maus könnte dann mehr hindurchschlüpfen. Nachdem Karena ihr verderbenbringendes Gut abgeworfen hatte, kehrte sie ins Schloß zurück, um Nachschub zu holen. Sie schaffte es, den Kreis ein zweites Mal abzufliegen und damit die Siedlungen der Taureker vollständig einzuhüllen. Nun hatte sie ihr Ziel erreicht: der gelbe Dunst würde den Zwergen die Luft nehmen und sie wie eine Schlange im Würgegriff erdrücken. Die Hexe ließ sich vom Teppich zum höchsten Turm ihres Schlosses bringen, wo sich eine Aussichtsplattform befand. Von dort aus betrachtete sie zufrieden ihr Werk und rieb sich vor Vergnügen die Hände. Zwar fiel ihr noch ihre Tochter ein, die irgendwo da draußen steckte, aber die war widerstandsfähig und würde sich schon durchschlagen. Auch ihr würde die Sache eine Lehre sein. So richtig treffen dagegen würde sie diese aufsässigen Wichte. »So wahr ich Karena heiße«, murmelte sie kichernd, »ein paar Tage noch, dann werden die Zwerge auf Knien angerutscht kommen, damit ich sie von dem Gelben Nebel befreie!« GEFANGEN IM GELBEN NEBEL Der Jäger Arkado war der erste, der am Morgen das Haus verließ und bemerkte, daß etwas nicht stimmte. Die Sonne, die um diese Zeit schon hinter den Felsvorsprüngen hätte hervorschauen und ihre wärmenden Strahlen zur Erde schicken müssen, sah aus wie eine große schmutzige Apfelsine. Sie leuchtete kaum, und von wärmenden Strahlen konnte man gleich gar nicht reden. Arkado schaute in die Runde und stellte fest, daß überall, so weit er blicken konnte, ein gelber Schleier über der Erde wallte. Er reichte bis in die Ebene hinunter, stand über der Wassermühle und erhob sich auch hier, an der Steinmühle! Selbst über der Staubschlucht hing er, vermengte sich mit den Nebelschwaden dort. Man hätte meinen können, die Schlucht wollte ihre Fühler ausstrecken, um die ganze Umgebung in sich einzusaugen. Der Jäger rannte entsetzt ins Haus zurück, er traf auf der Schwelle Kastao und Antreno, die gleichfalls keine Ruhe mehr hatten. Wortlos wies er mit einer weiten Handbewegung nach draußen, damit die Ältesten sich selbst ein Bild von dem Geschehen machten. »Das ist es also, was Karena vorhatte!« sagte Antreno nach einer Weile betroffen. »Seht nur, meine Siedlung an der Wassermühle ist schon gänzlich von diesem Nebel überzogen. Ich muß sofort zu meinen Brüdern und Schwestern!« Er eilte, so schnell er konnte, davon. Die beiden anderen hielten ihn nicht ab – ein Stammesältester hatte im Augenblick der Gefahr bei seinem Volk zu sein. »Was meinst du«, wandte sich der Jäger an Kastao, »ist dieser Dunst sehr gefährlich?« »Ich glaube schon«, antwortete Kastao, und da er merkte, daß der Jäger, der ja nie bei den Mühlen gearbeitet hatte, nur wenig über diese Erscheinung wußte, erklärte er: »Gefährlich ist der Gelbe Nebel vor allem, weil er ein Gemisch darstellt. Der Steinstaub an sich ist leicht und wird normalerweise vom Wind weggeweht. Vermengt mit Wasser, kann er jedoch endlos lange in der Luft hängen.« Er räusperte sich und fuhr fort: »Der Aufenthalt in diesem Dunst ist äußerst schädlich für die Gesundheit. Er kann, wie du selber weißt, schon bei kurzer Dauer krank machen. Immer wieder finden sich ja wagemutige Männer, die in die Schlucht hinabsteigen, um sie zu erkunden, doch noch nie hat einer den Grund erreicht. Wenn sie nicht schnell zurückkommen, ersticken sie. Auch die armen Kerle, die zur Strafe in den Abgrund geworfen werden, kommen auf diese Weise um, wenn sie sich nicht gleich das Genick brechen. Viele Taureker, die in unmittelbarer Nähe der Schlucht arbeiten, leiden unter ständigem Husten, ihre Augen tränen und büßen die Sehkraft ein.« »Und du glaubst, Karena will uns für unseren Ungehorsam auf diese furchtbare Art bestrafen?« flüsterte Arkado erschrocken. Kastao verzichtete auf eine Antwort, denn zusehends näherte sich der Gelbe Nebel bereits der Steinmühlensiedlung. »Wenn wir am Leben bleiben wollen, dürfen wir keine Minute mehr verlieren!« rief er. »Wir müssen umgehend fliehen!« »Aber wohin?« fragte der Jäger, mehr sich selbst. »Dieser gelbe Dunst ist überall, wohin man schaut!« Er überlegte kurz, dann fuhr er entschlossen fort: »Hör zu, Kastao, geh du zu deinen Leuten und warne sie vor der drohenden Gefahr. Ich laufe inzwischen in die Steppe und prüfe, ob es einen Platz gibt, der uns Sicherheit bietet. Ich kenne dort Weg und Steg, jeden noch so engen Felsspalt, vielleicht finden wir ein Versteck.« »Einverstanden. Wir verschanzen uns in den Häusern, bis du uns Bescheid gibst, dichten sämtliche Tür- und Fensterritzen ab. Wenn wir eine Öffnung für die Luft lassen und sie mit feuchten Tüchern verhängen, werden wir es schon eine Weile durchstehen. Falls übrigens dich unterwegs der Gelbe Nebel einholt, solltest du dir gleichfalls ein nasses Tuch vors Gesicht binden, Arkado. Es hilft ganz gut, ich hab es selber ausprobiert.« Dem Jäger kam ein Gedanke. »Wie will eigentlich Karena selbst überleben?« fragte er. »Auch sie ist ja nicht unsterblich, muß atmen, essen…« »Die Riesen sind leider viel kräftiger als wir, außerdem würden sie sich in die obersten Stockwerke ihres Schlosses flüchten oder auf den Turm«, erwiderte Kastao zornig. »Der Nebel breitet sich hauptsächlich am Boden aus und wird das Schloß gerade mal bis zur Hälfte einhüllen. Bleibt nur die Hoffnung, daß die alte Hexe verhungert. Wir haben so ziemlich alle Lebensmittel versteckt.« »Und wie sieht’s mit euren eigenen Vorräten aus? Ihr müßt ja gleichfalls essen und trinken. Und ihr seid eine Menge Leute.« »Stimmt, wir können uns nur an das halten, was sicher in den Kellern aufbewahrt ist und nicht durch diesen Giftschlamm verunreinigt wird. Immerhin können wir zwei Wochen durchhalten, wenn wir sparsam sind.« Arkado und Kastao umarmten sich zum Abschied, und im nächsten Augenblick war der Jäger wie vom Erdboden verschluckt. Der Stammesälteste aber eilte zu seinen Leuten, um den Schutz zu organisieren. Er hatte noch Zeit, sämtliche Einwohner auf dem Dorfplatz zu versammeln, um ihnen die schwierige Lage zu erläutern, in der sie sich befanden. Als er gerade zu den Maßnahmen kam, die ergriffen werden sollten, traf überraschend Antreno wieder bei ihnen ein. Es stellte sich heraus, daß es in der Wassersiedlung nicht gelingen würde, dem Gelben Nebel den Zugang zu den Häusern zu versperren. Die Türen und Fenster schlossen nicht dicht genug, es blieb viel zu wenig Zeit, alle Ritzen und Löcher zu verstopfen. Der schmutzige Dunst drang überall ein – schon litten einige Zwerge unter heftigem Augentränen und starkem Husten. Deshalb hatte sich Antreno einen anderen Ausweg überlegt: »Wir müssen in die Wassermühle flüchten und das Mühlrad erneut in Bewegung setzen!« rief er seinen Leuten zu. »Das ist die einzige Rettung!« »Was denn, wir sollen wieder anfangen zu arbeiten?!« empörten sich die Reker. »Wozu haben wir Karena dann überhaupt den Kampf angesagt? Sie wird sofort denken, wir hätten aufgegeben und sie wäre die Siegerin! Eine solche Schmach können wir nicht hinnehmen, sie würde in aller Ewigkeit auf unserem Volk lasten!« Antreno war nicht erstaunt über diesen Protest, er erwiderte ruhig: »Es geht nicht darum, nachzugeben, sondern unser Leben zu schützen und dann den Widerstand weiterzuführen. Mit Hilfe des Wassers können wir uns den Nebel vom Leib halten. Wir leiten das Wasser übers Dach der Mühle, so daß wir hinter einem fließenden Vorhang sitzen, in einer Art künstlichen Glocke. Allerdings müssen wir das Rad rund um die Uhr in schneller Bewegung halten, damit wir einen starken Wasserdruck erzeugen. Nur so können wir den Nebel abhalten.« Der Älteste legte eine Pause ein. Als er sah, daß ihm die Leute aufmerksam zuhörten, fuhr er fort: »Die Sache ist nicht leicht, hat aber einen zweiten Vorteil. Wir werden nicht jeder für sich, sondern alle beisammen sein. Gemeinsam werden wir uns an die Arbeit machen, statt angstvoll abzuwarten. Denn glaubt mir, meine Freunde, aus langjähriger Lebenserfahrung weiß ich, daß es nichts Qualvolleres gibt, als in Augenblicken der Gefahr müßig herumzusitzen und die Hände in den Schoß zu legen.« Mit seiner entschlossenen Rede hatte Antreno die Zwerge überzeugt. Mehr noch, sie hielten es für richtig, auch die Bewohner der Steinsiedlung zu benachrichtigen und ihnen anzubieten, mit in die Wassermühle zu kommen. Ihre Häuser würden dem Gelben Nebel bestimmt ebensowenig standhalten. Aus diesem Grund war Antreno zu Kastao und den Tau geeilt, legte ihnen in der gebotenen Kürze die Dinge dar. Nein, wenn sie die Wassermühle wieder in Betrieb nahmen, taten sie es bestimmt nicht aus Feigheit oder Verrat an ihrer gemeinsamen Sache. Es war vielmehr die einzige Möglichkeit, den Kampf fortzuführen und vielleicht sogar zu siegen. Die Tau begriffen sofort, und bereits eine Stunde später setzte sich aus der Steinsiedlung ein langer Treck in Richtung Wassermühle in Marsch. Er bestand aus Fuhrwerken, voll beladen mit dem Hab und Gut der Zwerge und natürlich aus den Bewohnern der Dörfer selbst. Den Schluß bildete der alte Kastao. Zum erstenmal, seit er sich erinnern konnte, ja zum erstenmal in der Geschichte seines Volkes, lag die Siedlung völlig ausgestorben da. Nur die gelbe Fahne wehte noch über seinem Haus, doch als er sich dann ein letztes Mal umschaute, war sie schon nicht mehr zu sehen. Die Siedlung war bereits vom Gelben Nebel erfaßt und die Fahne in diesem Gewaber verschwunden. Viel Zeit blieb den Zwergen nicht für ihren Umzug, und während die einen noch beim Einräumen waren, verlegten die anderen schon Rohre, setzten dritte das Mühlrad in Gang. Wie geplant, wurde das Wasser nun nicht mehr in die Schlucht geleitet, sondern aufs Mühlendach, von wo es nach allen Seiten herabströmte und einen undurchdringlichen Vorhang gegen den erstickenden Nebel bildete. Antreno selbst ging mehrmals prüfend um die Mühle herum, überzeugte sich, daß es keine Lücken in den Wasserwänden gab. Die Geschichte funktionierte! Die giftigen Schwaden konnten ihnen nichts mehr anhaben. Sie saßen geschützt, wie hinter kräftig herabstürzenden Wasserfällen. Im Innern der Mühle wurde unterdessen emsig gezimmert und gebaut. Man hörte das Kreischen der Sägen und das Klopfen der Hämmer, die Räume wurden wohnlich hergerichtet. Die Frauen kümmerten sich ums Essen und um die Kinder, die ihnen ständig zwischen den Beinen herumquirlten, helfen oder nur spielen wollten. Kastao und Antreno aber hatten sich in ein kleines Zimmer zurückgezogen. Sie sprachen über Arkado. Beide bedauerten schon, daß sie den tapferen Jäger hatten allein in die Steppe ziehen lassen. Selbst wenn es ihm gelungen war, eine Stelle zu finden, wo ihm der Gelbe Nebel nichts anhaben konnte – wie sollte er jemals zurückkommen? Gewiß, Arkado kannte die Gegend wie seine Westentasche, er würde nicht gleich zugrundegehen. Doch was, wenn er sein Leben aufs Spiel setzte, um die Zwerge zu retten? Sie kannten ihn, er würde keine Gefahr scheuen und ihnen auf schnellstem Wege zu Hilfe eilen. Wie leicht konnte er sich dann trotz seiner Wegekenntnis verirren und ersticken. Falls Arkado aber überlebte, käme er gewiß zur Steinsiedlung zurück, von der er aufgebrochen war. Das Dorf jedoch war von seinen Bewohnern überstürzt verlassen worden, erinnerte an einen zerstörten Ameisenhaufen. Bestimmt würde der Jäger daraus schließen, daß Karena über die Tau hergefallen war und sie alle verschleppt hatte! Deshalb würde er entweder zum Schloß der Riesin aufbrechen oder aber zur Wassersiedlung laufen. Im ersten Fall würde er wahrscheinlich in die Fänge der Riesin geraten, im zweiten das Quietschen des Mühlrades vernehmen. Diese zweite Möglichkeit war freilich immer noch die bessere, selbst wenn Arkado dann zu dem Schluß kam, die stolzen Reker hätten sich ergeben. ARACHNA ERWACHT Der Jäger Arkado war zunächst in Richtung Schloß geeilt. Der Nebel hatte sich noch nicht bis dorthin vorgearbeitet, und die Luft war sauber und klar. Schon von weitem sah er hoch oben auf der Turmplattform die Hexe, die zufrieden ihr Werk betrachtete. Natürlich konnte sie aus dieser Höhe herab unmöglich den winzigen Mann entdecken, der sich seinen Weg durchs Gesträuch bahnte. Es gab unzählige solcher Pfade in Taurekien, sie bildeten ein großes, ineinander verschlungenes Netz. Nur wenige Zwerge kannten sich in diesem Gewirr so gut aus wie der Jäger. Arkado ließ das Schloß seitlich liegen. Er blieb nur kurz stehen, als er plötzlich einen Zettel durch die Luft tanzen und direkt vor sich auf den Boden fallen sah. Das Blatt Papier kam ihm bekannt vor, und er hob es auf. Natürlich, es war die Botschaft der Zwerge, die sie Karena übermittelt hatten, und die von der Riesin jetzt, da sie ihren Inhalt kannte, endgültig weggeworfen worden war. Kurze Zeit später war der Jäger bereits tief in die Steppe vorgedrungen. Hier merkte er plötzlich, daß ihm das Atmen schwerer fiel. Weiter oben war der Nebel gewiß weniger dicht, deshalb erklomm Arkado eine nahegelegene Anhöhe. Sie gehörte zu einer Hügelkette, von der die Steppe durchzogen wurde. Vom Kamm aus konnte er nun erkennen, daß der gelbe Dunst inzwischen naß und bedrohlich in den Talsenken stand. Aber auch hier oben türmten sich schon erste Nebelwände auf, und er mußte ja weiter, wenn er ein Versteck für die Zwerge finden wollte. Also holte Arkado, dem Rat Antrenos folgend, ein Tuch aus der Tasche, durchtränkte es mit Wasser aus seiner Trinkflasche und band es sich vor Mund und Nase. Dann setzte er seinen Weg fort. Nun hing alles davon ab, wie schnell er vorankam und wie weit sich der Gelbe Nebel über die Steppe erstreckte. Das Laufen wurde immer schwieriger. Bisweilen mußte sich der Jäger geradezu blindlings vorwärtstasten, denn die Sicht reichte keine zehn Meter weit. Er war auch stets von neuem gezwungen, das Tuch anzufeuchten, weil sich eine Staubschicht darauf gebildet hatte. Die Nacht verbrachte Arkado in einer höher gelegenen Höhle, die er von seinen Streifzügen her kannte. Seine Beine führten ihn fast automatisch zu diesem Unterschlupf, dessen Eingang er mit einem großen Stein verschlossen und mit Zweigen getarnt hatte. Er wollte verhindern, daß Tiere hineingelangten und sich über den dort hinterlegten Proviant hermachten. Die Zweige und der Stein hatten auch den Nebel daran gehindert, ins Innere der Höhle einzudringen. Obwohl der gelbe Dunst hier zum Glück schwächer war, dichtete der Jäger den Eingang wieder ab, nachdem er hineingeschlüpft war, und warf sich erschöpft auf sein kleines Strohlager. Er schlief sofort fest ein. Arkado benötigte noch drei solcher Unterkünfte, ehe es ihm gelang, den Gelben Nebel hinter sich zu lassen. Endlich hatte er eine weiträumige Hochebene erreicht, die fernab von den beiden Siedlungen und vom Schloß lag. Zu fern. Er selbst war zwar schon öfter hier gewesen, doch er bezweifelte, daß die anderen Zwerge den beschwerlichen Weg bis zu diesem Ort schaffen würden. Der Jäger schaute aufmerksam in die Tiefe – vielleicht gab es noch eine nebelfreie Zone im Tal, die näher an die beiden Siedlungen heranreichte. Doch das war nicht der Fall, der Nebel wallte überall, die Hexe hatte ganze Arbeit geleistet! Was sollte aus den Taurekern werden, wenn sie keinen Ausweg fanden? Wenn die Lebensmittelvorräte in ihren Häusern aufgebraucht waren? Mußten sie klein beigeben, sich der Riesin erneut auf Gedeih und Verderb unterwerfen? Sie würde ihnen den Ungehorsam heimzahlen und sich noch gemeinere Strafen ausdenken. Dann ließ Arkado die Augen zur anderen Seite der Hochebene schweifen, so als könnte er dort Hilfe für sein Volk finden. Doch plötzlich geschah etwas, das er in seinen schlimmsten Träumen nicht erwartet hätte. Es rauschte in der Luft, als käme ein Felsblock geflogen, und genau in seiner Blickrichtung sauste eine riesige Frau zu Boden. Karena! dachte der Jäger entsetzt. Wie um Himmels willen kommt die hierher? Hat der Fliegende Teppich ihr etwa ein Schnippchen geschlagen und sie abgeschüttelt? Vor drei Tagen hab ich sie noch hoch oben auf ihrem Schloß gesehen, ist sie mir vielleicht auf die Spur gekommen? Doch diesen unsinnigen Gedanken schob er sogleich wieder beiseite. Karena hatte anderes zu tun, als ihm nachzujagen. Wahrscheinlich brachte sie sich nur selbst vor dem Nebel in Sicherheit oder war auf der Suche nach etwas Eßbarem, weil sie ihre Vorräte aufgebraucht hatte. Sicherheitshalber legte sich Arkado flach auf den Boden, um nicht gesehen zu werden. Er wartete eine Weile ab, doch die Riesin war ohnmächtig oder gar tot, sie blieb unbeweglich liegen. Der Jäger erhob sich wieder und pirschte sich näher an sie heran. Von einem Felsen aus betrachtete er sie genauer und begriff – das da war gar nicht Karena! Nein, nein, diese Riesin war kleiner, es handelte sich um die andere, ihre Tochter, mit der sie sich ständig zankte und die zuletzt wieder einmal aus dem Schloß weggelaufen war. Aber wieso fiel sie jetzt vom Himmel? Meine Güte, die auch noch, dachte der Jäger erschrocken, womit hab ich das verdient? Sie bewegt den Arm, also lebt sie noch. Wahrscheinlich ist sie durch einen Zaubertrick hierher gelangt. Scheint nicht ganz gelungen zu sein, so wie sie heruntergeplumpst ist. Trotzdem, was will sie hier? Plötzlich kam ihm eine Idee. Und wenn ich nun versuche, die beiden gegeneinander aufzuhetzen? Die Tochter gegen die Mutter, sie sind sich ja sowieso nicht grün. Vielleicht gelingt es mir, Arachna auf unsere Seite zu ziehen. Wir haben immerhin das Zauberbuch, einen fetten Köder. Arkado beobachtete die Riesin weiter, allem Anschein nach ging es ihr ziemlich schlecht. Sie regte sich etwas, ohne zu erwachen, und sie sah erschöpft und zerschunden aus. Auch ihre Kleider waren in einem beklagenswerten Zustand. Was immer geschehen sein mag, ich muß die Gelegenheit nutzen, sagte sich der Jäger. Wenn sie erwacht, wird sie Hunger und Durst haben. Ich will mein Bestes tun, sie friedlich zu stimmen. Vielleicht läßt sie dann mit sich reden. Die Sache war nicht bloß gefährlich für ihn, sie erforderte auch all seine Kraft. Die Riesin war nur kurz aus ihrer Betäubung erwacht und hatte sich, wohl ohne etwas zu begreifen, auf die Seite gedreht. Sie schlief den Nachmittag und die ganze Nacht hindurch, wobei sie schnarchte, daß die Hügel ringsum widerhallten. Arkado aber räumte inzwischen seine Vorratslager leer. Er arbeitete fast ohne Pause, schleppte Essen und Trinken herbei. Das Dörrfleisch und die Wasserschläuche, mit denen ein ganzes Heer von Zwergen hätte versorgt werden können, legte er in einiger Entfernung von der Riesin nieder, damit sie es beim Erwachen fand. Gegen Morgen entfachte der Jäger dann ein großes Feuer, wobei er darauf bedacht war, trockenes Holz zu nehmen. Er wollte nicht, daß Qualm aufstieg und womöglich Karena anlockte. Es hätte ja sein können, daß sie einen Rundflug unternahm. Als alles getan war, stärkte er sich erst einmal selbst und legte sich gleichfalls für ein paar Stunden aufs Ohr. Wenn Arachna zu sich kam, würde er sofort wieder auf den Beinen sein. Arkado erwachte, als die Riesin sich zu regen begann. Sie schlug die Augen auf, war aber offensichtlich zu geschwächt, um aufzustehen. Der Duft des Fleisches und die Wärme des Feuers schienen freilich ihre Lebensgeister zu wecken. Sie blickte suchend umher und sah zunächst einen der Wasserschläuche. Dieses Geschenk kam ihr gerade recht, denn sie hatte großen Durst. »Wasser«, krächzte sie erfreut und kroch auf allen Vieren zu dem Platz, von dem die verlockenden Gerüche ausgingen. Sie ergriff den Ledersack mit der glucksenden Flüssigkeit, öffnete ihn und setzte ihn an die Lippen. Gierig ließ sie das kostbare Naß die ausgedörrte Kehle hinunterrinnen, das Arkado für sie bereitgestellt hatte. Für sie waren es nur wenige Schlucke, doch der Jäger hatte ja vorgesorgt. Schnell entdeckte die Riesin auch die anderen Schläuche und kurz darauf das Fleisch. Ein Anblick, bei dem sie vor Freude mit der Zunge schnalzte. Ohne erst lange zu überlegen, woher die Schätze kamen, setzte sie sich zu Tisch. Das heißt, sie blieb gleich auf dem Boden hocken, während sie mit beiden Händen zugriff, große Happen Dörrfleisch verspeiste, Knochen abnagte und mit einem Trunk Wasser nachspülte. Sie fragte sich höchstens dabei, ob etwa ihr Traum von vorhin weiterging. Einmal kniff sie sich sogar in die Backe, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Arkado, der die Frau aus seinem Versteck heraus beobachtete, konnte sich nur wundern, mit welcher Geschwindigkeit sie seinen Monatsvorrat vertilgte. Man mußte direkt Angst haben, daß sie sich daran verschluckte! Schließlich hatte Arachna ihr Mahl beendet. Sie schaute bedauernd auf die abgenagten Knochen und geleerten Schläuche, war aber sichtlich zufrieden. Sie setzte sich ans Feuer, um sich ein wenig aufzuwärmen, und erst da schien ihr das Erstaunliche der Situation bewußt zu werden. Plötzlich sprang sie wie von der Tarantel gestochen auf und spähte aufmerksam in die Runde. »Ich möchte gar zu gern wissen, wer mir all diese Speisen hingestellt hat«, murmelte sie verwirrt. »Das war doch kein Zufall. Sollte sich Karena, meine Mutter, Sorgen um mich machen? So freundlich ist sie doch sonst nicht. Wo bin ich überhaupt, was ist mir zugestoßen? Ich bin… ach ja, ich bin vor ein paar Tagen aus dem Schloß weggelaufen, weil wir uns wieder mal gestritten hatten. Das Leben mit ihr ist in der Tat unerträglich. Ob sie mir hinterherspioniert? Wie auch immer, ich muß auf der Hut sein.« Sie hielt erneut nach allen Seiten Ausschau, konnte aber nichts Beunruhigendes entdecken. DER PAKT Man mag sich wundern, daß Arachna nicht mehr an das Zauberland, an das Mädchen Ah, den Tiger und alles andere dachte, aber da sie in ihre Vergangenheit, in die Zeit ihrer Jugend zurückgekehrt war, hatte sie das Geschehen der späteren Zeit völlig vergessen. Besser gesagt, es war in ihrem Hirn ausgelöscht worden. »Seltsam«, murmelte die Riesin, »kein Mensch weit und breit! Und doch wärmt mich dieses Feuer, standen Wasser und Fleisch bereit. Oder galt der Empfang jemand anderem? Aber wem – so viele Leute gibt es hier nicht. Außer Karena leben im Land eigentlich nur noch die Zwerge.« Die Zwerge, natürlich, erst vorhin waren sie ihr ja wieder im Traum erschienen. Bestimmt trieben sich einige auch in dieser Wildnis herum. Andererseits, was hatte Arachna ihnen schon Gutes getan, für das sie sich hätten erkenntlich zeigen müssen. Eigentlich gar nichts Gutes bisher, wenn man ehrlich war. Trotzdem, irgendeinen Zusammenhang mußte es hier geben. Und aufmerksam begann die Riesin ihre nähere Umgebung abzusuchen. Wer sucht, der findet. Zunächst stieß Arachna auf ein Blatt Papier, das jemand ziemlich dicht vor ihrer Nase auf einen Ast gespießt hatte. Sie brauchte nur den Arm auszustrecken, und schon hatte sie es in der Hand. Eine Botschaft, die vielleicht Licht in das Dunkel brachte. Etwas mühsam entzifferte sie die Worte auf dem zerknitterten Zettel, die eigentlich Karena galten. Die Riesin zog die Stirn in Falten, überlegte fieberhaft. Sie begriff nicht alles, was in der Botschaft stand, doch eins war klar: Die Zwerge hatten ihrer Mutter den Kampf angesagt! Diese Wichte müssen in der Nähe sein, sagte sich Arachna gleich darauf, sie beobachten mich. Ob sie sich wirklich ernsthaft mit meiner Mutter anlegen wollen? Das ist lächerlich, Karena wird sie zerquetschen. Andererseits sind es viele, und wir sind auf sie angewiesen. Sie hielt den Zettel unschlüssig in den Händen. Mit ihrer Mutter war zwar nicht gut Kirschen essen, dennoch schien die Gelegenheit günstig, sich bei diesen Leutchen Ansehen zu verschaffen. Sie rief: »Was wollt ihr? Ich hab nichts gegen euch.« Arachna erwartete, daß sich die Zwerge zeigten, aber nichts dergleichen geschah. »Kommt heraus, damit wir miteinander reden können«, sagte sie. »Ich schwöre, euch nichts zu tun!« Doch auch diesmal passierte nichts, und die Riesin wollte bereits ungehalten werden, als ihr die letzten Worte der Botschaft an Karena wieder einfielen. Ganz schön hartnäckig, dachte sie, diese Bande will wahrscheinlich auch von mir den Großen Riesenschwur. »Also gut, ihr sollt euren Willen haben! Hiermit leiste ich den Großen Riesenschwur, euch gegenüber fair zu sein und euch anständig zu behandeln. Bei meinen Vorfahren! Sollte ich ihn je brechen, will ich in ewigen Schlaf verfallen!« Sie erhob sich der Feierlichkeit wegen zu voller Größe und kam sich in diesem Augenblick sehr edel vor. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie den Großen Schwur, den jeder Riese von Kindesbeinen an kennt, zum letztenmal gesprochen hatte. Kaum war das letzte Wort verklungen, stand plötzlich ein winziges Männlein vor ihr. Der Zwerg mußte aus den Büschen gekommen sein, die sich noch leicht bewegten. Er rief, so laut er konnte: »Ich bin Arkado, der Schloßjäger. Es freut mich, daß wir uns verständigen können.« »Habt ihr mir das leckere Fleisch und die Wasserschläuche hingelegt?« »Ich war es«, sagte Arkado stolz. »Es hat mich einige Arbeit gekostet, aber ich sah, daß es Euch nicht besonders gut ging und daß Ihr eine Stärkung gebrauchen konntet.« »Das kann man wohl behaupten«, brummte Arachna und wunderte sich, es nur mit einem der Zwerge zu tun zu haben. Sie wußte ja nichts von dem Gelben Nebel und der Flucht der anderen Taureker in die Wassermühle. Arkado, der begriff, daß die Riesin trotz ihres Schwurs noch immer unschlüssig war, wie sie sich verhalten sollte, erzählte ihr nun von den Geschehnissen der letzten Tage. »Deshalb bin ich allein hier«, schloß er, »Karena aber soll wissen, daß wir Taureker ein stolzes Volk sind. Wir werden lieber sterben, als uns weiter so von ihr demütigen zu lassen.« »Und was erwartet ihr von mir?« »Ihr könntet uns in unserem Streit mit Karena helfen.« »Du weißt nicht, was du von mir verlangst«, erwiderte Arachna, die keine Lust hatte, sich in eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter einzulassen. »Die Alte ist stärker als ich, und den Gelben Nebel, von dem du redest, kann ich auch nicht wegblasen.« »Aber vielleicht könntet Ihr uns in eine Gegend bringen, wo wir in Frieden leben und wieder frei atmen können. Statt Karena würden wir allezeit Euch dienen.« Die Riesin überlegte. War es nicht besser, sich trotz allem auf die Seite ihrer Mutter zu schlagen? Trotz des Großen Schwurs? »Karena besitzt den Fliegenden Teppich und das Zauberbuch«, wandte sie ein. »Irrtum. Das Zauberbuch haben wir!« Diese fast beiläufig gegebene Antwort verblüffte Arachna so, daß ihr der Mund offenstand. Gleichzeitig trat ein gieriges Funkeln in ihre Augen. Schließlich wußte sie, was man mit diesem Buch alles anstellen konnte, sie hatte ihre Mutter mehr als einmal beim Zaubern belauscht. Stürme, Überschwemmungen, Erdbeben konnte man damit auslösen, aber auch Reichtümer in seinen Besitz bringen. Selbst der Fliegende Teppich mußte den Befehlen gehorchen, die im Buch standen. »Ihr habt wirklich das Zauberbuch an euch gebracht?« fragte die Riesin. »Gewiß, es ging nicht anders.« »Dann bring mich zu dem Ort, wo ihr es versteckt habt.« »Ihr denkt doch an Euren Schwur?« sagte Arkado zögernd. »Aber ja. Wenn ich das Buch habe, bin ich stärker als Karena und kann euch helfen.« Der Jäger mußte sich auf ihre Worte verlassen, er vertraute auch darauf, daß Arachna gern selbst die Herrscherin wäre. Und außerdem – er hatte keine Wahl. Sie zogen los. Der Jäger band erneut ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase, dann hob Arachna ihn hoch. Auf ihrer Handfläche sitzend, die Arme um einen ihrer Finger geklammert, konnte er einigermaßen atmen und sie gut dirigieren. Die Riesin selbst dagegen verzichtete auf ein Tuch, sie würde schon nicht gleich an dem Staub ersticken. DIE TAUREKER WERDEN GERETTET Für einen Außenstehenden wäre das ein lustiger Anblick gewesen. Arachna bewegte sich mit Riesenschritten vorwärts, bemüht, nicht zu stolpern und Arkados Kommandos zu befolgen. Von Zeit zu Zeit schaute sie zu dem Jäger hinunter, der sich einerseits festhalten, andererseits auf den Weg achten mußte. Vor lauter Anspannung und von dem vielen Staub tränten beiden die Augen. Nach einer Stunde hatten sie den Höhleneingang erreicht, der so meisterlich getarnt war, daß weder Karena noch Arachna ihn je entdeckt hätten. Doch selbst wenn sie auf ihn gestoßen wären – es hätte ihnen nichts genutzt. Zum Höhleninneren führte nämlich ein langer Gang, länger als der Arm der Riesen, wenn man ihn bis zur Schulter hineinsteckte. Dahinter erst wurde es weiter, erstreckte sich ein Gewölbe, geräumig wie eines der Zimmer in Karenas Schloß. Arkado bat die Riesin, ihn vor der Höhle abzusetzen. Arachna ging in die Hocke und legte die Hand auf den Boden, damit der Jäger bequem absteigen konnte. Gleich darauf war er im Gesträuch verschwunden und tauchte in die Höhle ein. Da die Zwerge zu Beginn ihres Aufstands noch nicht wußten, wie es mit dem Zauberbuch weitergehen würde, hatten sie Pferde und Fuhrwerk im Gewölbe zurückgelassen. Arkado hatte den Tieren Wasser hingestellt und sie mit Heu versorgt, jetzt begrüßten sie ihn freudig wiehernd. Der Futtervorrat war ziemlich zusammengeschmolzen, doch hätten sie es noch eine Weile ausgehalten. Der Jäger tätschelte liebevoll ihre Zottelmähnen und schüttete neues Wasser in ihre Holztröge. Dann überzeugte er sich, daß Karenas Buch noch unversehrt in der Ecke lag. Er spannte an, beförderte das Werk mit großer Mühe auf den Wagen, setzte sich obenauf und lenkte das Gefährt aus der Höhle. Kurze Zeit später war er bei Arachna angelangt, die vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen trat. Als sie den Jäger erblickte, wollte sie das Buch sofort aufschlagen, um ihre Künste zu erproben, doch eine Art Ehrfurcht hielt sie zunächst davon ab. Außerdem war hier, im Nebel, nicht der richtige Platz zum Lesen. Sie marschierten erneut los. Arachna packte das Zauberbuch mit der freien Hand und preßte es so fest an die Brust, als fürchtete sie, irgendwer könnte es ihr wieder wegnehmen. Arkado hatte zuvor die Pferde ausgespannt, damit sie in dem Nebel nicht noch das Fuhrwerk ziehen mußten. Schnaubend folgten die Tiere der Riesin. Endlich ließen sie den Dunst hinter sich, und nun hielt es Arachna nicht länger aus. Sie setzte sich gleich auf die Erde und begann in dem Schatz zu blättern, der ihr so unverhofft zugefallen war. Arkado hatte etwas entfernt auf einem Stein Platz genommen und ließ die Riesin nicht aus den Augen. Er war sich nicht schlüssig – hatte er es wirklich richtig gemacht? Nicht nur sein Schicksal, auch das der anderen Zwerge hing jetzt von dieser Frau ab. Wenn sie sich trotz ihrer Zusicherungen gegen die Taureker wandte, waren sie endgültig verloren. Und wie war es seinen Stammesgenossen dort im Gelben Nebel überhaupt ergangen? Immerhin hatte er schon einige Tage nichts mehr von ihnen gehört. Hoffentlich war die Hexe inzwischen nicht über sie hergefallen! Karena war alles zuzutrauen. Sollte sie herausbekommen, wo das Zauberbuch war, scheute sie bestimmt vor keiner Grausamkeit zurück. Und in der Tat, Arkados Befürchtungen waren nicht aus der Luft gegriffen. Um ein Haar wäre es den Zwergen in der Mühle tatsächlich übel ergangen! Karena hatte tagelang vergeblich darauf gewartet, daß ihre aufsässigen Diener sich wieder demütig unterwarfen, und sie hatte sich in Gedanken bereits die härtesten Strafen für sie zurechtgelegt. Doch als das Erhoffte nicht eintrat, beschloß sie, selber etwas zu unternehmen. Der Lärm, der ständig von der Staubschlucht herüberdrang, konnte nur von den Mühlen kommen. Aber warum waren sie wieder in Gang gesetzt worden? Von ihrem Turm aus versuchte Karena den Nebel mit Blicken zu durchbohren. Anfangs nahm sie ja noch an, die Zwerge hätten sich besonnen und wollten mit fleißiger Arbeit ihre Herrin versöhnlich stimmen. Doch als die Tage verstrichen, ohne daß sich einer ihrer Diener im Schloß blicken ließ, wurde sie unruhig. Bis dann ihr Zorn und ihre Neugier siegten und sie sich auf den Weg machte, um selbst nachzusehen. »Ich will wissen, was diese Taugenichtse treiben«, knurrte Karena mißmutig. »Wehe, wenn sie mir unter die Finger kommen! Ich werde sie durchschütteln, daß ihnen Hören und Sehen vergeht.« Sie schwang sich auf ihren Teppich und befahl ihm, sie zur Schlucht zu bringen, zu den Mühlen. Um die Taureker aber nicht zu warnen, beschrieb sie einen großen Bogen, näherte sich ihnen von der Schlucht her, von wo sie bestimmt nicht erwartet wurde! Als sie über die Steppe flog, entdeckte sie in einiger Entfernung, dort wo der Nebel mit dem Himmel verschmolz, eine dünne Rauchfahne. »Sieht aus wie ein Lagerfeuer«, murmelte sie, »wer könnte das sein? Etwa Arachna? Na, die Rumtreiberin nehm ich mir später vor. Erst rechne ich mal mit den Zwergen ab, dann kommt sie dran.« Doch aus dieser Absicht wurde nichts. Die Rauchfahne, die sie da unten aufsteigen sah, rührte von einem Feuer her, an dem tatsächlich Arachna saß, die aber blätterte bereits in dem Zauberbuch. Und genau in dem Augenblick, als Karena die Staubschlucht überquerte, hatte ihre Tochter die entscheidende Formel gefunden, mit der man den Fliegenden Teppich rufen konnte. »Abradox Knochenkrox – zu mir, Teppich!« rief Arachna mit dröhnender Stimme unvermittelt, so daß der Jäger vor Schreck fast von seinem Stein gefallen wäre. Der Teppich nun – das muß erwähnt werden – diente jedem, der die richtigen Befehle gab. Nichts da von Anhänglichkeit, der jeweilige Besitzer war ihm egal, nur die Formel aus dem Zauberbuch zählte. Aus diesem Grund bäumte er sich, kaum daß er den fernen Ruf vernommen hatte, heftig auf. Die völlig überraschte Riesin Karena wurde abgeworfen, bevor sie noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie stürzte kopfüber in die Tiefe, sauste in die Staubschlucht hinab, in die sie sonst ihre Diener zu werfen pflegte. Im Fallen schoß ihr noch durch den Sinn, daß es ein Fehler gewesen war, der Rauchfahne von vorhin nicht auf den Grund zu gehen. Denn der Teppich, das bekam sie in letzter Sekunde mit, drehte genau in jene Richtung ab. Arachna und Arkado aber mußten eine Weile auf den Fliegenden Teppich warten, so daß sie schon befürchteten, die Formel wirke nicht. Als er dann doch kam, kannte die Freude des Riesenweibs keine Grenzen. Sie sprang auf, begann wie wild um das Feuer herumzutanzen und rief: »Er kommt! Er kommt wirklich, das Goldstück!« Sie hüpfte so ungestüm umher, daß es Arkado vorzog, sich hinter einem Stein in Sicherheit zu bringen, um nicht unter ihre stampfenden Füße zu geraten. Der Teppich verharrte einen Augenblick über ihnen, dann fiel er herab, plumpste Arachna genau auf den Kopf. Die Riesin kam ins Stolpern und krachte zu Boden. Als sie sich aufgerappelt hatte, war ihr Gesicht dunkel von Staub und Schmutz. Doch dieser kleine Unfall störte sie in keiner Weise. Ihre Augen und Zähne blitzten in all dem Schwarz nur umso heller. »Arkado«, rief die Riesin mit grollender Stimme, »wo steckst du, zum Donnerwetter! Wir wollen zu deinen Leuten fliegen, damit sie was zu essen und zu trinken herbeischaffen. Auch neue Kleidung brauche ich, meine ist nach all den Strapazen ziemlich mitgenommen.« Der Jäger kam vorsichtig hinter seinem Stein hervor. Bei Arachnas Gebrüll fragte er sich besorgt, ob sie nicht vom Regen in die Traufe geraten waren. Die Tochter Karenas, die bereits mitten auf dem Teppich thronte, war vielleicht nicht besser als ihre Mutter. Immerhin, sie hatte den Großen Schwur geleistet und versprochen, die Zwerge gerecht zu behandeln. Die alte Riesin dagegen… Wenn ich bloß wüßte, wo Karena jetzt ist? dachte Arkado gleich darauf. Würde mich gar nicht wundern, wenn sie uns eine Falle stellt. Da er Arachna damit etwas Respekt einzuflößen hoffte, teilte er ihr seine Befürchtungen umgehend mit. »Wir müssen vorsichtig sein, Herrin«, sagte er, »mit Eurer Mutter ist nicht zu spaßen.« Diese Worte dämpften den Drang der Riesin, sich als neue Herrscherin aufzuspielen, tatsächlich. »Was schlägst du vor?« fragte sie, ruhiger geworden. »Zuerst sollten wir mit dem Fliegenden Teppich die Gegend bei den Mühlen und Siedlungen erkunden«, sagte Arkado, der wieder seinen Platz auf ihrer Handfläche eingenommen hatte. Arachna war einverstanden. Auf ihr Geheiß hin erhob sich der Teppich und flog auf die Schlucht zu. Sie hielten sich seitlich davon und vernahmen plötzlich Geräusche, die an das Quietschen von Mühlrädern erinnerten. Ich komme zu spät, dachte Arkado betrübt. Offenbar mußten meine Freunde aufgeben und sich Karena erneut unterwerfen. Der Teppich nahm jetzt direkten Kurs auf die Wassermühle, denn der Arbeitslärm schien von dort zu kommen. Unvermutet riß die gelbe Nebelschicht unter ihnen auf und gab die Sicht auf das graue Gebäude frei. Doch was heißt grau – so sah sie ja gar nicht mehr aus. Im Gegenteil, die Mühle lag wie ein funkelnder Diamant da, wie ein Zauberstein, dessen Facetten in bunten Regenbogenfarben schillern. Das aber kam von dem Wasser, das nach allen Seiten übers Dach zu Boden stürzte. Es hatte den Nebel vertrieben, den Staub weggewaschen und vermengte sich nun mit den Sonnenstrahlen. Ein farbenprächtiges Bild! Arkados Angst jedenfalls war auf einmal wie weggeblasen, und er begriff, daß die Taureker ein Mittel gefunden hatten, sich gegen Karenas Gelben Nebel zur Wehr zu setzen. »Auf so einen grandiosen Einfall kann nur Antreno gekommen sein, einer unserer Stammesältesten«, rief er laut. Eine ungeheure Freude hatte ihn ergriffen, gepaart mit dem Stolz auf das ganze Zwergengeschlecht. ARACHNAS RÜCKKEHR Der Teppich setzte zum Sturzflug an, glitt in den Spalt zwischen Wasserkuppel und Gelbem Nebel und landete direkt vor dem Eingang zur Mühle. Das alles aber geschah höchst elegant und lautlos. Beim Anblick der dreckverschmierten Riesin flohen die wachhabenden Zwerge entsetzt ins Innere des Gebäudes und verriegelten das Tor. In dem Tohuwabohu hatte natürlich niemand den Jäger Arkado auf Arachnas Hand entdeckt. Die Wache war vielmehr überzeugt, Karena in höchsteigener Person sei zu ihnen herabgestiegen, um Rache für ihre Aufsässigkeit zu nehmen. Auf das Geschrei hin war auch Antreno herbeigeeilt, sein Alter und alle Würde vergessend. Ebenso schnell war Kastao zur Stelle, und überhaupt wimmelte es am Tor im Nu von Kindern und all jenen Zwergen, die gerade nicht beschäftigt waren. Die halbe Mühlenbevölkerung hatte sich eingefunden. Plötzlich wurde laut ans Tor geklopft, und eine bekannte Stimme rief: »He, Freunde, macht auf! Antreno, Kastao, hört ihr mich – ich bin es, der Jäger Arkado! Die Riesin neben mir ist nicht Karena, sondern unsere neue Herrin Arachna. Sie hat den Großen Riesenschwur geleistet und wird uns beschützen, wenn wir fortan ihr anstatt Karena dienen.« Antreno spähte ungläubig durchs Guckloch. Tatsächlich, da draußen stand, heil und unversehrt, der Jäger. Die beiden Stammesältesten hatten in den letzten Tagen oft von ihm gesprochen und schon fast die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals lebend wiederzusehen. Das Tor fuhr quietschend auf. Arkado fand sich in den Armen seiner Gefährten wieder, die ihn ungestüm an sich drückten und mit Fragen überhäuften. Wieviel hatte sich doch seit jener nächtlichen Zusammenkunft ereignet, als sie die Verschwörung gegen die Hexe vorbereiteten! Das Leben nicht nur der Taureker hatte sich grundlegend verändert, sondern alles ringsum. Da war plötzlich Arachna an die Stelle ihrer Mutter getreten und hatte den Großen Schwur geleistet. Es gab offenbar noch richtige Wunder. Die Riesin ihrerseits betrachtete neugierig die seltsame Mühle und die Ansammlung dieser winzigen Menschlein. Dann verließ sie ihren Fliegenden Teppich, schritt zu dem Wasserfall, bemüht, dabei nicht versehentlich auf eines der quirligen Wesen zu treten, und begann sich unter wohligem Ächzen zu waschen. Um sie her bildete sich sogleich eine große schmutzige Pfütze, die in dem Maße schlammiger wurde, wie die Frau den Dreck abspülte. Schließlich erinnerte die Pfütze an einen Sumpf, vor den Taurekern aber stand ein verhältnismäßig sauberes großes Weib, das im Vergleich zu Karena sogar einigermaßen hübsch war. Zwei Dutzend Frauen aus der einstigen Schloßdienerschaft eilten mit einem Tablett herbei, auf dem sie ein Salzfaß und viele Brote trugen, um den Neuankömmling nach altem Brauch willkommen zu heißen. Ungefähr hundert Männer aber legten der Riesin ehrerbietig ein Kleid Karenas zu Füßen, das sie aus dem Schloß mitgenommen hatten, um bei Bedarf neue Sachen für die Zwerge daraus zu schneidern. Arachna lächelte zufrieden. Nicht übel, so verwöhnt zu werden, dachte sie, man braucht ja nur ein bißchen freundlich zu sein. Ich werde die Zwerge mit auf den Fliegenden Teppich nehmen und so weit fortsegeln, daß meine Mutter mich nicht mehr wiederfindet. Die Riesin konnte ja nicht wissen, daß Karena in die Staubschlucht gestürzt war. Mit einer Handbewegung scheuchte sie ihre neuen Diener ins Haus, damit sie sich umziehen konnte. Dann rief sie, ohne noch Zeit mit unnützen Gesprächen und Verhandlungen zu vergeuden, mit lauter Stimme, so daß es in jedem Winkel der Mühle zu hören war: »Also gut, ihr Zwerge! Ich habe geschworen, euch zu behüten und kein Leid anzutun, aber auch ihr habt einen Eid geleistet! Nun denn, ihr gefallt mir, und ich bin gewillt, euch in ein fernes Land mitzunehmen. Es geht eine Sage darüber, und obwohl niemand von uns je dort war, bin ich sicher, daß es existiert. In diesem Reich soll es eine freundliche Sonne, grüne Wälder, blaue Berge und saftige Wiesen geben. Es heißt Zauberland, und wenn wir es erreichen, erwartet uns ein glückliches Leben. Macht euch also bereit zum Aufbruch. Packt nur das Nötigste zusammen, auf dem Teppich ist nicht unbegrenzt Platz! In einer Stunde starten wir!« Unterdessen hatte Arkado den Freunden von seinen Erlebnissen berichtet. Antreno und Kastao lobten ihn für seine List und Tapferkeit, doch mitten in ihr Gespräch hinein ertönte die Donnerstimme ihrer neuen Herrin. Die drei tauschten einen kurzen Blick und sagten seufzend: »Was hilft’s, wir müssen tun, was sie verlangt. Schlimmer als hier kann es in diesem Zauberland nicht sein.« Eine Stunde danach fanden sich alle Zwerge bei Arachna ein, die bereits auf ihrem Fliegenden Teppich thronte. Der wertvolle Vorleger erinnerte jetzt an die berühmte Arche Noah, denn die Taureker hatten ihr ganzes Vieh mitgebracht: Kühe und Pferde, Katzen und Hunde, Hühner und Enten. »Auf ins Zauberland!« befahl Arachna dem Teppich, als die Zwerge sich eingerichtet hatten, so gut es eben ging. Ein Zittern lief durch den Teppichkörper, er spannte sich und hob mit sichtlicher Mühe vom Boden ab. Die Zwerge atmeten erleichtert auf. Arachna gab dem Teppich keine Befehle mehr, sie war selbst gespannt, ob er sie in das Land bringen würde, von dem manchmal die Alten gesprochen hatten und das sehr schön sein mußte. Sie wußte nicht mehr, daß sie selbst schon dort gelebt und seine Bewohner zu unterwerfen versucht hatte, denn sie war ja durch den Tunnel und den Stein des Hurrikap um mehrere Jahrtausende zurückgeworfen worden und hatte dabei ihr Gedächtnis verloren. Der Teppich aber, eben ein Zauberteppich, fand den Weg in der Tat allein. Er landete auf der Talsohle, und die Zwerge machten sich sofort ans Werk. Die einen luden das Gepäck ab, die anderen nahmen bereits geeignete Bäume für den Hausbau in Augenschein. Während Antreno die Arbeiten leitete, rüstete Arkado schon zur ersten Jagd. Kastao aber machte sich auf die Suche nach einer Unterkunft für die Riesin und entdeckte auch bald eine große Höhle. Sie befand sich ganz in der Nähe in einer Schlucht, und Arachna erkor sie sofort zu ihrem neuen Domizil. Kaum daß sie allein war, suchte sie sich eine Felsspalte als Geheimfach für ihren größten Schatz aus, das Zauberbuch. Auf diese Weise kam Arachna also ins Zauberland und führte sich hier bald schlimmer auf als ihre Mutter Karena in der früheren Heimat. Zwar ließ sie, ihrem Schwur gemäß, die Zwerge in Ruhe, suchte dafür aber die Käuer, Zwinkerer und wie die Bewohner noch hießen, mit ihrer Bosheit heim. Nachdem der Große Zauberer Hurrikap sie deswegen mit einem fünf Jahrtausende währenden Schlaf bestraft hatte, war sie kein bißchen besser geworden, und es kam zu den Kämpfen mit dem Weisen Scheuch, dem Eisernen Holzfäller und dem Tapferen Löwen, in die schließlich das Mädchen Ann Smith, der Junge Tim O’Kelly und der Einbeinige Seemann Charlie Black eingriffen. Vom scheinbaren Ende Arachnas an der Todesklippe und ihrer Rettung durch die Große Glua habe ich schon erzählt, von ihrer Begegnung mit dem Uidenmädchen Ah und dem Säbelzahntiger Achr ebenfalls. Durch den Schwarzen Zauberstein und den Zeitentunnel kam die Riesin dann in ihre Kindheit zurück. So schloß sich der Kreis, dem Arachna nicht entgehen konnte. Wenn sie in der Vergangenheit war, hatte sie die Zukunft vergessen, und umgekehrt. Deshalb würden all ihre Abenteuer immer wieder von vorn beginnen. Zweiter Teil: Die defekten Tunnel EIN MERKWÜRDIGER VORFALL Während Arachna all diese Ereignisse durchlebte, während der Säbelzahntiger Achr und das Mädchen Ah weiter durch einen Tunnel stürzten, der sie in eine unbekannte Welt schleuderte, geschahen mit den Freunden des Zauberlandes neue, aufregende Dinge. Das betraf vor allem Ol, den Raum- und Zeitflieger vom Planeten Irena, der noch vor kurzem Chris Tall aus Kansas, dem Seemann Charlie Black und dem Piloten Kau-Ruck aus der Klemme geholfen hatte. Nach seiner Rückkehr von der Irena war Charlie auf ein geheimnisvolles Korallenriff geraten, das ihn einfach nicht mehr freigab. Chris Tall und seine Freunde hatten sich mit einem Katamaran auf die Suche nach ihm gemacht, ihn schließlich auch gefunden, saßen am Ende aber selber fest, und wäre ihnen nicht der Irener Ol zu Hilfe gekommen, hätten sie ihr geliebtes Amerika vielleicht nie wiedergesehen. Ol, seine Tochter Viola, die lange im Elmenland gewesen war, wo die Menschen zu durchscheinenden körperlosen Wesen wurden, und seine Frau Vi saßen an diesem Abend im Wohnzimmer ihres Hauses auf der Irena beisammen. Viola hatte das kleine Sofa vor dem Kamin mit Beschlag belegt, die Mutter gab Robby, einem lustigen Küchenroboter, letzte Anweisungen für die Zubereitung des Abendbrots, und Ol unterhielt sich mit zwei Jungs, die bei ihnen wohnten. Es waren Mo und No, vor langer Zeit von der Erde gekommen und, wie später auch das Mädchen Viola, zu Elmen geworden. Die beiden hatten ein eigenartiges Schicksal. Sie stammten von der sagenumwobenen Insel Atlantis, die einst im Meer untergegangen war. Noch heute träumten sie von ihrer Heimat und erzählten gern davon. Vor kurzem hatten sie wieder ihre menschliche Gestalt erlangt, und Ol hatte sie bei sich aufgenommen. Im Augenblick erklärte er ihnen gerade eine noch recht neue Erfindung, mit der man Raum und Zeit überbrücken konnte: die Kristallskaphander. Mo und No waren technisch sehr interessiert, deshalb hörten sie aufmerksam zu. Viola war ein wenig eifersüchtig auf die beiden Jungen: nicht nur, daß sie dauernd mit dem Vater zusammen waren, sie nahmen ihr auch ihre Lieblingsplätze im Haus weg. Zum Beispiel den auf dem Sofa. Ständig fläzten sie darauf herum. Deshalb machte sie sich jetzt dort so richtig breit. Sollten die beiden sich doch auf die harte Bank setzen oder auf den Teppich. Doch den Jungs schien das nichts auszumachen, sie rückten die Bank an den warmen Kamin heran und unterhielten sich weiter mit Ol. Inzwischen ging es um den Elming, den Ausgang jenes Tunnels, der die Irena mit der Erde verband. Die Massaren, die den Planeten beherrschten, hatten ihn mit einem elektrischen Schutzschild versehen, damit nicht plötzlich unliebsame Gäste in ihrem Reich auftauchten. Dabei waren sie es, die im Gegensatz zu Ol und seinen Freunden diese Tunnel mißbrauchten. Die Massaren wollten mit ihrer Hilfe auf die Erde gelangen, sie ausspähen und eines Tages sogar unterwerfen. No erzählte gerade von einem Vorfall, den er sich nicht erklären konnte. Er, der sich im Elming auskannte wie kein zweiter, hatte sich vorhin auf unbegreifliche Weise darin verirrt. »Es war sehr merkwürdig«, sagte er, »denn zuerst verlief alles normal. Ich ließ den Schutzschild hinter mir, der ja auf uns nicht wirkt, weil wir sowieso nicht in die Heimat zurück können, und suchte nach unbekannten Gegenständen – vielleicht waren welche neu von der Erde dorthin gelangt. Aber mit einem Mal war alles völlig anders als sonst. Die Luft trug mich plötzlich, sie war ganz leicht, und ich hatte das Gefühl, fliegen zu können.« »Ah, geflogen bist du«, sagte Viola spitz. »Deshalb also mußte dich mein Vater suchen, wie einen jungen Hund, der sich verirrt hat.« Man sah No an, daß ihm dieser Spott mißfiel. Es war nicht das erste Mal, daß Viola sich über ihn lustig machte. Wenn sie jetzt auf Atlantis gewesen wären, hätte er sie bestimmt dafür bestraft. Als Sohn des ehemaligen Herrschers Wanaka hätte er sie dazu verdonnert, ihm mit einem Palmwedel die lästigen Fliegen vom Leib zu halten. »Ja, ich bin geflogen«, erwiderte er etwas von oben herab. »Ich brauchte nur ein wenig mit den Armen zu rudern, und schon schwirrte ich ab.« »Und dein Brüderchen hat sich inzwischen die Hacken abgelaufen, um dich wiederzufinden!« No wurde verlegen. »Ich versteh das ja auch nicht«, murmelte er. »Ich hatte Mo bloß für einen Moment an dem Stück Säule zurückgelassen, das aus unserer Heimat stammte. Wer konnte denn ahnen, daß so was passiert.« »Für einen Moment, ist gut«, murrte das Mädchen. »Du warst so lange weg, daß Papa unruhig wurde und sich auf die Suche nach dir machte. Wo hat er dich überhaupt aufgetrieben, wenn du so schnell abgeschwirrt bist?« Nun schaltete sich Ol ein. »Mal schön langsam, das ist eine schwierige Geschichte«, sagte er. »No war nämlich viel länger unterwegs, als er glaubte, länger auch, als du annimmst, Viola. Als ich von seinem Bruder Mo erfuhr, daß er im Elming verschwunden sei, kam mir das gleich seltsam vor. Schließlich hatte er sich dort früher endlos aufgehalten, kannte jeden Stein, jeden Strauch. Nein, er konnte sich nicht so einfach verirren, das war nicht möglich, vielmehr mußte etwas Ungewöhnliches passiert sein. Wahrscheinlich war der Junge in den Tunnel geraten! Das aber konnte wiederum nur geschehen, wenn der Schacht defekt war.« Inzwischen war Vi aus der Küche ins Zimmer gekommen. Sie hatte gespannt zugehört und fragte besorgt: »Was heißt defekt? Saust man dort jetzt mir nichts, dir nichts in der Gegend herum? Kann man nicht mehr über sich selbst bestimmen?« »So ungefähr«, erwiderte Ol. »Es ist eine schlimme Sache, und ich brauchte eine Weile, um dahinterzukommen. Der ganze Tunnel ist außer Kontrolle geraten, hat sich gewissermaßen selbständig gemacht. Bisher gelangten wir durch ihn und andere Schächte ja immer an das gewünschte Ziel und auch wieder zurück. Plötzlich aber geht das nicht mehr.« »Und was passiert jetzt im Tunnel?« fragte Viola aufgeregt dazwischen. »Ja, was…« Ol machte eine Pause, und die Spannung der Kinder wuchs. »Man wird… wie soll ich sagen… in die Zeit entführt. In die Zukunft oder in die Vergangenheit.« Einen Augenblick lang schwiegen alle überrascht. Dann sagte Viola begeistert: »Aber das ist ja toll, richtig abenteuerlich!« Mo, der andere Junge, der bisher noch keinen Ton von sich gegeben hatte, murmelte: »Na, ich weiß ja nicht. Entführt werden heißt doch, daß man nicht mehr so einfach zum Ausgangsort zurückkommt.« »Genau das ist das Problem«, bestätigte Ol. »No war zu einem unbekannten Ziel aufgebrochen und hätte wahrscheinlich nie mehr zu uns zurückgefunden.« »Und was hast du nun gemacht?« wollte Vi wissen. »Ich bin, so schnell ich konnte, ins Synchronautikzentrum gerannt, wo die Flüge zur Erde koordiniert werden«, erwiderte Ol. »Ich habe Or, den Direktor, gebeten, niemanden mehr starten zu lassen, hab ihn auf die verheerenden Folgen aufmerksam gemacht, die für jeden Tunnelfahrer entstehen könnten. Und dann hab ich ihn überredet, mir diese Dinger da zu überlassen.« Ol wies auf zwei Pakete, die No und er mitgebracht hatten. Viola hatte sie schon für einen geheimnisvollen Fund gehalten, für einen Schatz aus dem Elming oder so etwas. Sie war nur noch nicht dazu gekommen, sie zu überprüfen oder wenigstens danach zu fragen. »Was ist das?« erkundigte sie sich hastig. »Das sind die Kristallskaphander, über die ich vorhin mit No und Mo gesprochen habe. Or hat sie mir überlassen, weil ich am besten damit umgehen kann, schließlich hab ich sie seinerzeit als erster ausprobiert. Sie besitzen zwar nur eine Reichweite von hundert Jahren, aber in diesem Fall waren sie das einzige Mittel, No wieder einzufangen. Ich hab ihn erwischt, bevor er auf Nimmerwiedersehen in der Zukunft verschwand. Gemeinsam sind wir dann zurückgeflogen.« »Ich habe mich dabei nicht gerade geschickt angestellt«, sagte No verlegen. »Für das erste Mal in so einem Skaphander warst du ganz gut«, tröstete ihn Ol. Vi dachte daran, daß ihr Mann in dem defekten Tunnel hätte verunglücken, mit No für immer in der Zukunft verlorengehen können, und ihr wurde ganz übel. »Was in drei Stunden alles passieren kann!« sagte sie. »Das war doch sehr gefährlich. Wenn ich gewußt hätte, was ihr treibt, hätte ich nicht so ruhig zu Hause gehockt.« Ol erwiderte: »Nun ja, gefährlich war es vielleicht. Aber drei Stunden, das scheint uns nur hier auf der Irena so. No war mir bereits einen Tag voraus. In dem Tunnel vergeht die Zeit nämlich viel schneller.« Über dieses Problem sprachen sie dann noch ausführlich, und als Viola später im Bett lag, konnte sie eine ganze Weile nicht einschlafen. Die Kristallskaphander gingen ihr im Kopf herum. Bestimmt würden ihr Vater und No die Fluganzüge erneut ausprobieren, um damit den defekten Tunnel zu erforschen. Wie konnte sie es nur anstellen, daß man sie mitnahm? Erst gegen Mitternacht schlief das Mädchen endlich ein. Sie war zu keiner Lösung gekommen. Aber auch Ol war noch lange wach und dachte über die Ereignisse des Tages nach. Er fragte sich, weshalb der Tunnel außer Kontrolle geraten war und was sich daraus für Folgen ergaben. VIOLA UND MO MACHEN SICH DAVON Am nächsten Morgen saß Ol nicht wie üblich als erster. am Frühstückstisch, sondern mußte mehrmals gerufen werden. Zum Frühstück gab es Buletten, und Ol, der die knusprigen braunen Klopse gern aß, riß sich für eine Weile von seinen Überlegungen los. Ganz gelang ihm das freilich nicht. Gefesselt von seinen Überlegungen, führte er Selbstgespräche und gestikulierte wild mit den Händen. »Der eine Pol ist die Erde, der andere die Irena«, sagte er laut. »No ist in die Zukunft geflogen, also führt der Tunnel von hier aus dorthin. Von der Erde aus aber geht es in die Vergangenheit. Genauso muß es sein. Nur im Elmenland, das dazwischen liegt und wo sich die unterschiedlichen Kräfte treffen, bleibt alles beim alten, dort ist die Zeit gleich null.« Während Ol nachdachte und Schlüsse zu ziehen versuchte, gingen seiner Tochter Viola viel praktischere Dinge durch den Sinn. Auch sie beschäftigte sich innerlich mit dem Tunnel und den sonderbaren Vorgängen dort. Dabei schien ihr ein Ausflug in die Zukunft allerdings eher verlockend als gefährlich. Das Risiko wird schon nicht so groß sein, sagte sie sich, dieser No hätte ja nur umkehren müssen, wahrscheinlich hatte er jede Orientierung verloren. Wenn er sich ein bißchen angestrengt hätte, wäre er auch wieder nach Hause gekommen. Das ist sogar mir gelungen, als ich damals im Elmenland war. Außerdem passe ich besser auf als er. Sobald ich merke, daß es schwierig wird, breche ich das Experiment ab. Zu ihrer Überraschung fand Viola einen Verbündeten in Mo, der seinem Bruder in nichts nachstehen wollte. Mal an der Zukunft schnuppern könnte man ja, dachte er. Und da er erriet, was das Mädchen vorhatte, brauchten sie nicht viel Worte, um sich zu verständigen. Während Ol noch in seinem Zimmer war und verschiedene Berechnungen über die umgewandelte Energie anstellte, während Vi in der Küche hantierte und No sich mit dem Roboter beschäftigte, machten sich die beiden heimlich aus dem Staub. Sie benutzten nicht die Straße, sondern schlichen durch den Garten und kletterten über den Zaun. Danach robbten sie eine Weile über freies Feld und rannten erst los, als sie merkten, daß niemand ihnen auf den Fersen war. Jetzt trennte nur noch der kleine Bach sie vom Elming. Ohne lange zu überlegen, sprangen sie hinein und wateten ans andere Ufer. Unterwegs hatten sie sich Gedanken gemacht, wie Viola den unsichtbaren Schutzschild überwinden könnte, der den Eingang zum Schacht abschirmte. Für Mo war das kein Problem, er stammte ja von der Atlantis. Vielleicht, so sagte er sich, klappte es für das Mädchen, wenn er sie an der Hand nahm? Doch nichts da – während er passieren konnte, prallte sie zurück wie von einer Gummiwand. Mo kam zu Viola zurück, und sie versuchten es erneut. Sie dachten sich die unmöglichsten Varianten aus: auf allen Vieren, mit dem Hintern zuerst, mit einem gewaltigen Sprung oder eng aneinandergepreßt. Doch alles half nichts, und so setzten sie sich enttäuscht ins Gras. Wahrscheinlich würde das Mädchen unverrichteter Dinge umkehren müssen. So schnell aber gab Viola nicht auf. »Wenn der Tunnel einen Defekt hat«, sagte sie, »warum sollte dann der Schutzschild noch voll und ganz intakt sein. Wir müssen nach einem Loch suchen, durch das ich schlüpfen kann. Los, gehn wir langsam um den Elming herum.« Mit dieser Hoffnung machten sie sich ans Werk, und Viola tastete immer wieder die unsichtbare Wand nach einer Lücke ab. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie tatsächlich einen Spalt fand. Sie hatte es doch gewußt! »Das schaffe ich«, rief das Mädchen und quetschte sich durch die Lücke. Als sie halb im Innern des Elmings war, gab der Schutzschild unvermutet nach, und sie fiel der Länge nach hin. Aber die Kratzer an Knie und Ellbogen, die sie sich dabei zuzog, machten ihr nicht das geringste aus – Hauptsache, sie war drin! Im Elming konnten die beiden zunächst nichts Besonderes entdecken. Viola, die eine Weile nicht hier gewesen war, schaute sich neugierig um und vergaß für den Augenblick die Gefahr, in die Zukunft verschlagen zu werden. Mo dachte zwar daran, glaubte aber nicht, daß etwas passieren könnte, solange sie der Stelle fernblieben, an der No gestern verschwunden war. Da er sich hier gut auskannte, zeigte er dem Mädchen seine Lieblingsplätze und Verstecke. Inzwischen hatte man zu Hause ihr Verschwinden entdeckt und war in heller Aufregung. Ol und Vi kannten die Abenteuerlust ihrer Tochter zur Genüge. No wiederum konnte sich denken, daß sein Bruder nicht hinter ihm zurückstehen, sondern ihn möglichst noch übertrumpfen wollte. »Sie sind bestimmt zum Tunnel gelaufen«, sagte No, »meinem Brüderchen wäre das zuzutrauen.« »Viola auch«, erwiderte Vi, »manchmal ist sie mehr als unvernünftig. Zum Glück ist das Gebiet um die Tunnelöffnung durch den Schutzschild abgesperrt. Unsere Tochter kann nicht durch, und ich hoffe, Mo ist Kavalier genug, sie nicht allein zurückzulassen.« Ol hoffte das gleichfalls, machte sich aber trotzdem Sorgen. Und wenn nun auch die unsichtbare Wand außer Kontrolle geriet? Er hatte Vi dargelegt, welche Gefahren mit dem defekten Tunnelsystem verbunden waren, diese letzte Befürchtung jedoch für sich behalten. Während seine Frau und No noch diskutierten, verließ er ohne ein Wort das Haus, machte sich zum Elming auf. Er nahm den kürzesten Weg, doch am Sperrkreis angelangt, hielt er vergeblich nach den Kindern Ausschau. Sie sind drin, Viola ist irgendwie reingekommen, dachte Ol bestürzt. Hoffentlich erwische ich sie noch! Er trat an den Schutzschild heran und spürte deutlich die Risse, die sich hier und dort in der Wand zu bilden begannen. Schon bald fand er eine dünne Stelle, die ihm den Durchschlupf erlaubte. Innen sah er sich verzweifelt erneut um. Ein Zentnergewicht fiel ihm vom Herzen, als er die beiden endlich entdeckte. Viola und Mo steuerten gerade das Bruchstück einer Säule an, das am Boden lag. Es war der Lieblingsstein der Atlanterjungen, denn er stammte von ihrer untergegangenen Insel. Ol rannte hinter den Ausreißern her, und sie bekamen einen gehörigen Schreck, als sie ihn neben sich auftauchen sahen. Sie erschraken aber nicht nur, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten, sondern auch, weil er völlig außer Atem war und sich beim Kriechen durch den Schutzschild die Sachen zerrissen hatte. »Papa, wo kommst du denn her«, rief Viola, »bist du uns etwa gefolgt?« »Und ob ich euch gefolgt bin! Was fällt euch ein, klammheimlich von zu Hause wegzulaufen und in den Elming einzudringen. Ihr habt doch gehört, was No gestern passiert ist.« »Ach, ist ja alles gut gegangen, und wir sind viel vorsichtiger als er. Wir wollten…« Doch was sie wollten, konnte das Mädchen nicht mehr darlegen. Mit einemmal war ihr das Wort abgeschnitten, und sie merkte, wie sie leicht wurde, gewissermaßen Flügel bekam. Aber auch ihr Vater und Mo verspürten dieses Gefühl. Zu spät begriff Ol, daß sie in den Sog geraten waren wie gestern No, und daß sie in der Falle saßen. Ja, die drei waren genau an der Stelle, an der Mos Bruder einen Tag vorher verschwunden war, von der Anziehungskraft des Tunnels erfaßt worden, gegen die sie sich nicht wehren konnten. Sie wurden in die Zukunft entführt, und keiner von ihnen wußte, wo sie landen würden. DIE WÄNDE HABEN OHREN Auch Vi und No hatten ihre Diskussion letzten Endes abgebrochen, ihnen war aufgefallen, daß Ol gleichfalls das Haus verlassen hatte. »Er ist zum Elming«, sagte Vi, »wo sollte er sonst hin. Ich hab keine Ruhe!« Sie ließ alles stehen und liegen und rannte zusammen mit No ihrem Mann hinterher. Sie kamen gerade noch zurecht, um von der unsichtbaren Wand aus das Verschwinden der drei beobachten zu können. Vi war verzweifelt, zumal es ihr nicht gelang, den Schutzschild zu durchbrechen. Sie befanden sich an einer Stelle, wo er noch keine Lücke hatte. Nun hielt sie wenigstens No am Arm fest, denn sie wollte nicht, daß auch er sich noch davonmachte. Ol ist klug und bewandert in diesen Dingen, sagte sich Vi immer wieder, er wird bestimmt einen Ausweg finden. Selbst in dieser ungewöhnlichen Situation. Ich darf nur nicht in Panik geraten, die Nerven verlieren. Und sie setzte sich erst einmal ins Gras, um gründlich zu überlegen. »Die Skaphander«, sagte No plötzlich, »vielleicht können wir mit ihnen etwas ausrichten. Ich bin ja gestern schon damit geflogen.« »Es sind aber nur zwei, also zu wenig, um die andern zurückzuholen. Außerdem haben sie keine große Reichweite.« »Besser als gar nichts. Was sollen wir sonst tun?« »Gut«, erwiderte Vi, »gehn wir wieder nach Hause. Ich will sehen, wo Ol sie hingepackt hat.« Diese Fluganzüge, in denen man wie Superman durch Raum und Zeit sausen konnte, waren aber nicht nur die letzte Hoffnung für die beiden, sie hatten auch im Synchronautikzentrum für Aufregung gesorgt. Vor allem durch die Tatsache, daß Ol sie angeblich brauchte, um den Jungen No aus der Zukunft zurückzuholen. Or, der Direktor des Zentrums, hatte das zunächst gar nicht glauben wollen. Or war einer der obersten Herrscher auf der Irena, und er hatte nur eine Sorge: die Macht der Massaren zu sichern und alles, was von anderen Planeten kam, unter Kontrolle zu halten. Ol, einer seiner geschicktesten Tunnelpiloten, war zu seinem Leidwesen ein Vitant, das heißt ein Angehöriger jener Gruppe von Leuten, die mit der Erde gute Beziehungen aufnehmen wollten. Ein Plan, der den Massaren überhaupt nicht gefiel, denn sie waren auf Eroberung aus. Deshalb mußte man nach Ors Meinung auch auf Ol aufpassen, durfte ihm nicht zuviel erlauben. Andererseits war er aber der beste Techniker auf der Irena und kannte sich hervorragend mit dem Tunnelsystem aus. Die Massaren konnten kaum auf sein Wissen verzichten. Als Ol dem Direktor von den sonderbaren Veränderungen im Hauptschacht berichtete, war dieser aufs höchste beunruhigt. Nur deshalb gab er die beiden Zeitanzüge heraus – der Pilot sollte der Sache auf den Grund gehen. No war ihm dagegen egal. Mit ihm konnte er sowieso nichts anfangen, weshalb sollte er sich seinetwegen aufregen. Or war gespannt, was Ol herausfinden würde, gleichzeitig mißtraute er ihm aber. Nachdem Violas Vater gegangen war, gab er sofort Anweisung, die Angaben zu überprüfen und bis auf weiteres alle Flüge zur Erde einzustellen. Dann rief er jedoch Din und Nel zu sich, zwei seiner Untergebenen. Sie waren seine Männer für schwierige Aufgaben und schon öfter mit heiklen Aufträgen betraut worden. Din und Nel zeichneten sich durch ihren Eifer aus, hatten zuletzt aber gründlich versagt. Als es nämlich darum gegangen war, die Rückkehr mehrerer Erdenbewohner zu verhindern: des Jungen Kostja, des Geologen Viktor Stepanowitsch, des Jägers Kusmitsch und des bereits erwähnten Einbeinigen Seemanns Charlie Black. Damals waren sie von Ol geschickt hinters Licht geführt worden, was sie ihm bis jetzt nicht verziehen. Auf diese Niederlage spielte der Direktor an, als er die beiden zwar liebenswürdig begrüßte, sie aber auch fragte, ob sie nicht ihre Scharte von neulich auswetzen wollten. »Die ruhige Zeit im Labor ist vorbei«, erklärte er, »jetzt gilt es das Haus von Vi und Ol überwachen, und zwar rund um die Uhr.« »Das Haus von Vi und Ol?« Nel war alles andere als begeistert. »Diese Familie bereitet uns nur Ungelegenheiten. Welche Gemeinheit haben sie denn diesmal vor?« Or erklärte den Männern, daß es nicht um Gemeinheiten ging, sondern um Gefahren, die möglicherweise auf die Irena zukämen. Leider sei es Ol gewesen, der den Defekt im Tunnel entdeckt hätte und nicht etwa einer der zuständigen Massaren. Da man aber nicht wisse, was er wirklich vorhabe, müsse man ihn im Auge behalten. »Nehmt den Peilwagen«, fügte der Direktor hinzu, »all unsere Mittel stehen euch zur Verfügung. Nicht die kleinste Maus darf unbemerkt in Ols Haus gelangen oder es verlassen.« Wenig später standen Din und Nel mit ihrem supermodernen Peilwagen schon in der Nähe von Ols Haus. Das Fahrzeug war mit den besten Apparaturen ausgerüstet, die man zum Überwachen und Beobachten besaß. Mit ihrer Hilfe konnte jeder Vorgang außerhalb und auch innerhalb des Gebäudes verfolgt werden. Sogar in die Kochtöpfe konnten die beiden gucken. Sie richteten ihre Geräte auf das Erdgeschoß, wo sich das Wohnzimmer und die Küche befanden. Dort hielten sich die Bewohner erfahrungsgemäß am meisten auf, dort wurden auch viele Gespräche geführt. Der Abend und die Nacht verliefen ruhig, Din und Nel konnten nicht viel Neues erfahren. Sie vertrieben sich die Zeit mit Schachspielen und schliefen später abwechselnd, das heißt, sie lösten sich beim Wachehalten ab. Auch am Morgen passierte noch nicht viel, so daß die beiden sich zu langweilen begannen. Sie paßten nicht mehr so genau auf, warfen nur noch ab und zu einen Blick auf die Bildschirme. Aus diesem Grund bekamen sie auch nicht mit, daß Viola und Mo heimlich das Haus verließen. Sie wurden erst wieder aufmerksam, als OL aufgeregt aus seinem Zimmer herunterkam und Vi seine Überlegungen zum Tunneldefekt mitteilte. Daß sich dort die Energie verlagern und das gesamte System verändern würde. Daß dadurch im Elming ein gewaltiger Sog entstehen könnte, was für die Irener unvorhersehbare Folgen mit sich brächte. Daß es den Weg zur Erde zwar noch gäbe, man aber dort leicht in die Vergangenheit geraten könnte usw. Din hatte bei den ersten Worten Ols sofort eine Verbindung zu seinem Chef geschaltet, so daß der Direktor alles mithören konnte. Or hatte sich natürlich selbst auch schon Gedanken über die Lage gemacht und fand sie durch die Worte des Vitanten bestätigt. Ja, Ol ging in seinen Überlegungen noch weiter als er, indem er meinte, die Kraft des Tunnels könnte ausreichen, die Zeit um Tausende von Jahren zu verschieben. Diese Daten übermittelte Or sofort an das Rechenzentrum. Er war sehr besorgt, zollte der Vorstellungskraft und dem Wissen des Tunnelpiloten aber auch Achtung, ja Bewunderung. Die aufgeregte Stimme Dins rief ihn unvermittelt in die Gegenwart zurück. »Chef, im Haus muß irgendwas passiert sein! Ol ist ohne ein Wort zu sagen losgerannt, offenbar zum Elming. Seine Frau und der eine Junge folgen ihm jetzt. Sie haben’s fast noch eiliger als er.« »Der eine Junge? Was machen der andere und das Mädchen, diese Viola?« Daß Or sofort nach den beiden Kindern fragte, war Din peinlich. Liebend gern hätte er verschwiegen, daß Nel und er nicht aufgepaßt hatten. Doch das ging nun nicht mehr. »Obwohl die fünf beim Frühstück noch zusammen waren, haben wir Viola und Mo schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen«, gab er kleinlaut zu. »Hab ich nicht ausdrücklich befohlen, daß niemand, nicht das kleinste Mäuschen, das Haus ungesehen betreten oder verlassen darf!« schrie der Direktor wütend. »Achtet ihr so auf meine Anweisungen?« »Sie haben ja recht, Chef, aber wir sind nur zu zweit. Wenn die einen da und die andern dorthin laufen, können wir sie sowieso nicht alle beobachten. Wir haben uns hauptsächlich auf Ol konzentriert.« »Ihr habt jede Kleinigkeit zu melden, ihr Dummköpfe«, brüllte Or, »damit ich die entsprechenden Maßnahmen ergreifen kann! Und jetzt fahrt Ol hinterher. Laßt ihn ja nicht aus den Augen!« Der Peilwagen setzte sich schnell in Bewegung. Din und Nel hatten Ol bald wieder im Visier. Um nicht aufzufallen und die Lage besser überblicken zu können, schalteten sie die Fluganlage ein, erhoben sich wie mit einem Hubschrauber in die Luft. Von dort aus fotografierten sie Ol mehrmals, zuletzt sogar, als er zusammen mit Viola und Mo vom Tunnel eingesogen wurde. Or, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte, nahm die Nachricht vom Verschwinden der drei mit gemischten Gefühlen auf. Gut, daß ich Ol habe beobachten lassen, dachte er. Vielleicht werde ich ihn nie mehr wiedersehen, aber wenigstens bin ich auf dem laufenden. Schade, denn wenn er im Grunde auch mein Gegner war – er war intelligent und ein würdiger Widersacher. Jetzt muß ich zusehen, wie ich mit all den Problemen ohne ihn zurechtkomme. GEFANGEN IM TUNNEL Inzwischen rasten Ol, Viola und Mo der Zukunft entgegen. Die anfängliche Leichtigkeit war gewichen, ein starker Druck lastete auf ihnen, und für einige Zeit wurde sogar das Atmen schwer. Erst als sich ihre Körper der Geschwindigkeit angepaßt hatten, waren sie wieder in der Lage, über ihre Situation nachzudenken und sich darüber zu unterhalten. Viola war noch immer verblüfft über das schnelle Auftauchen ihres Vaters. Ihr schwante, daß sich der kurze Ausflug, den sie vorgehabt hatte, in die Länge ziehen konnte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und wäre am liebsten wieder zu Hause bei ihrer Mutter gewesen. »Da habt ihr uns was Schönes eingebrockt«, sagte Ol, »wie kann man nur so unvernünftig sein.« »Wir wollten uns doch bloß mal am Tunnelausgang umschaun, vielleicht für einen Tag oder zwei in die Zukunft fliegen wie No«, rechtfertigte sich Viola. »Ich hatte euch gestern lang und breit erklärt, daß der Tunnel defekt ist und ich No mit dem Skaphander zurückholen mußte. Aber wer holt jetzt uns zurück?« »Es sind doch erst ein paar Minuten vergangen«, schaltete sich Mo ein, der Viola nicht im Stich lassen wollte. »Bestimmt werden Vi und No kommen.« »Ein paar Minuten?« Ol lachte bitter. »Das ganze Tunnelsystem ist aus dem Gleichgewicht geraten, Zeit und Raum verschieben sich mit ungeheurer Geschwindigkeit. Merkt ihr nicht, daß wir mitten im Sog sind? Wir sind schon Jahre von dem Augenblick entfernt, da wir in den Elming eindrangen.« »Jahre?« rief Viola erschrocken. »Aber das ist ja schrecklich! Wir müssen den Tunnel sofort verlassen.« Und mit den Armen rudernd, versuchte sie kehrtzumachen, dem Sog irgendwie zu entkommen. Ol sah ihren Bemühungen einen Moment lang zu, ohne einzugreifen. Dann erklärte er: »Hör schon auf, man kann von einem fahrenden Zug nicht abspringen. Noch dazu, wenn er so dahinrast wie dieser. Und wenn man es könnte, würde man sich alle Knochen brechen. Unsere Gesundheit werden wir aber noch brauchen.« »Was sollen wir bloß tun?« fragte Mo bedrückt. »Wir müssen uns um einige tausend Jahre voraus in die Zukunft tragen lassen«, erwiderte Ol, »das ist nicht mehr zu ändern.« Obwohl die beiden Kinder sich so ungeheuer große Zeiträume nicht richtig vorstellen konnten, waren sie für den Augenblick sprachlos. Entgeistert starrten sie Ol an. Nach einer Weile sagte Viola: »Tausende von Jahren? Bleiben wir wenigstens hier, auf der Irena?« »Es sieht so aus. Allerdings könnten wir später auch zur Erde gelangen. Nach meinen Berechnungen sogar schneller als bisher und wahrscheinlich in die Vergangenheit.« Mo war von dieser Aussicht sehr angetan, seine Augen begannen zu funkeln. »Also ich wäre dafür, zur Erde zu fliegen«, sagte er. »Vielleicht kommen wir in jene Epoche, als Atlantis noch existierte. Zu schade, daß No nicht bei uns ist.« »Und wie sollen wir auf der Erde Mama treffen?« fragte Viola, der die Tränen in die Augen stiegen. »Wenn sie uns sucht, dann auf der Irena.« »Der Tunnel wird uns zunächst sowieso keine Wahl lassen«, erwiderte Ol, »wir werden im Sog bleiben, bis er uns freigibt. Erst dann können wir weitersehn.« Die Kinder schwiegen erneut, und da die Geschwindigkeit immer größer wurde, preßte sich Viola fest an ihren Vater. Er war ihr einziger Schutz, und so hielt sie auch dem Druck besser stand. Mo aber erkundigte sich: »Wie lange kann es denn dauern, bis uns der Tunnel wieder freigibt?« »Wenn ich es richtig einschätze, ungefähr eine Woche.« Viola war entsetzt. »Eine ganze Woche? Aber bis dahin verhungern wir. Durst habe ich schon jetzt.« Mo wußte Bescheid: »Eine Woche – das könnten wir gerade noch schaffen. Ohne Wasser, meine ich, so lange steht der Mensch es notfalls durch. Ohne Essen kommt er dagegen bis zu einem Monat aus.« »Ihr braucht keine Angst zu haben, wir verhungern und verdursten schon nicht«, beruhigte Ol die beiden. »Wir kommen bald am Elmenland vorbei, wo man sich in ein körperloses Wesen verwandelt, das keine Nahrung benötigt. Ihr habt damit ja bereits eure Erfahrungen gemacht.« Und wirklich – als durchscheinende Wesen, Geistern aus dem Jenseits ähnlich, wurden sie nach sieben Tagen zum Ende des Tunnels geschleust. Erst hier wurden sie wieder sie selbst. Der Sog verebbte, und sie gelangten zum Ausgang. Der Anblick, der sich ihnen bot, war allerdings niederschmetternd. Zu Hause hatten eine warme, freundliche Sonne, saftiges grünes Gras und ein üppiger Wald ihr Auge erfreut. Vögel hatten gezwitschert, blaue Seen und sprudelnde Bäche zum Baden eingeladen. Vor allem aber hatte es Menschen gegeben, Massaren und Vitanten. Hier dagegen war nichts Lebendiges zu entdecken. Eine bläßliche Scheibe hing schief an einem traurig grauen Himmel, der den Betrachter wehmütig stimmte. Kein Gedanke, daß von dort freundliche Sonnenstrahlen zur Erde dringen könnten. Überhaupt wirkte alles ringsum trist und grau, wie von Schimmel oder Spinnweben überzogen. Wo sollte da Vogelgezwitscher herkommen? Und statt blauer Seen gab es nur bräunlichen Morast. Sie hielten Ausschau nach einem Lebenszeichen – vergeblich. Kein Haus, keine Rauchfahne, die auf ein Feuer hingedeutet hätte, und schon gar kein Kinderlachen. Nur eine gigantische Spur durchzog in Windungen die Einöde, sie schien alles plattgewalzt zu haben. Selbst Ol, der als Raumflieger schon so manchen unwirtlichen Planeten gesehen hatte, war erschrocken. Wie sollen wir uns hier bloß behaupten, dachte er. Doch er verbarg seine Betroffenheit, tat, als sei alles normal. Zum Glück nahmen die Kinder die Sache nicht so tragisch. Zwar gefiel ihnen diese Landschaft genausowenig, aber sie wurden durch die breite Spur abgelenkt, deren Ursache sie sich nicht erklären konnten. »Sie rührt von nichts anderem als dem Tunnel her«, sagte Ol, »der Eingang hat sich über die Jahrtausende durch den riesigen Druck beträchtlich verschoben. Wenn ich nur wüßte, wo wir genau sind.« »Und der Schutzschild um den Elming«, fragte Mo, »was ist aus dem geworden?« »Den gibt es nicht mehr, die Energie für das Magnetfeld fehlt.« »Wenn wir dieser Spur folgen, müßten wir aber irgendwann zu dem Platz kommen, wo der Elming war und wo unser Haus stand«, sagte Viola hoffnungsvoll. »Da befindet sich doch nichts mehr«, wandte Mo ein, »wir sollten besser versuchen, zur Erde zu gelangen, nach Atlantis.« Er hatte nicht vergessen, daß Ol anfangs von dieser Möglichkeit gesprochen hatte. »So einfach geht das nicht«, erwiderte Violas Vater, »erst muß der Weg zur Erde wieder frei sein.« »Aber wann ist das, und wie sollen wir es erfahren, wenn wir nicht am Tunneleingang bleiben?« beharrte Mo. »Bis es soweit ist, wird einige Zeit vergehen«, erklärte Ol. »Vielleicht haben wir Glück und brauchen uns nicht allzu weit zu entfernen. Es sieht aus, als habe sich der Tunnel in Schlingerbewegungen einfach nur hin und her gewälzt.« DIE FLUGMOLCHE Der erste Schritt ins Freie brachte einen unvorhergesehenen Sturz mit sich. Sie glaubten, festen Boden unter den Füßen zu haben, versanken aber bis über die Knöchel im Staub, stolperten und fielen hin. Doch sie fielen weich, die graue Masse nahm sie fast schmeichelnd in Empfang. Nur stob der Schmutz in so dichten Wolken auf, daß es ihnen regelrecht den Atem benahm. Die drei husteten, spuckten und richteten sich ziemlich ärgerlich wieder auf. Das fing ja gut an! Ihre Kehlen waren ausgetrocknet, und ihr erster Gedanke galt dem Aufspüren von Wasser. Um sich sattzutrinken und, wenn möglich, zu waschen. Aber sie konnten keinen Bach, Fluß oder gar See entdecken. Nur graue, trockene Ödnis. »Viola hat recht, wir sollten dieser Spur folgen«, sagte Ol. »Hier ist der Boden wenigstens glattgewalzt, und der Staub liegt nicht ganz so hoch. Vielleicht erreichen wir eine bewohnte Gegend. Wenn nicht, können wir immer noch zum Tunnel zurückkehren.« Insgeheim aber dachte er an den Bach, der in der Nähe des Elmings geflossen war, an den Teich hinter ihrem Haus und an das Haus selbst. Steinbauten aus der Vergangenheit der Irena hatten viele Jahrhunderte überdauert. Warum sollten Gebäude der neueren Epochen, die aus unverwüstlichem Kunststoff gefertigt waren, nicht Jahrtausende überstehen. Sie stapften los, bemüht, nicht so viel Staub aufzuwirbeln. Es wurde ein anstrengender Marsch. Manchmal wollten sie schon aufgeben, denn die Landschaft veränderte sich kaum, und vor allem Mo kam immer wieder auf die Erde zu sprechen, die man nur durch den Tunnel erreichen konnte. Aber Ol war nicht so schnell von seinem Plan abzubringen, und nach mehreren Stunden Wanderung gab es endlich einen Hoffnungsschimmer. In der Ferne sahen sie eine Erhebung. Es war nur ein bescheidener Hügel, zum Teil mit Gestrüpp bewachsen, wie es schien, doch die drei begrüßten ihn fast enthusiastisch. »Wenn dort Sträucher sind, gibt es in der Nähe vielleicht Wasser«, rief Viola. »Ja, einen Teich mit Fischen, die man fangen und braten kann«, ergänzte Mo. »Auf unserer Insel hab ich mich gut auf den Fischfang verstanden.« »Warten wir’s ab.« Ol dämpfte die Freude etwas. »Wir wollen nicht gleich zuviel erhoffen.« Viola rannte trotzdem sofort los, wirbelte aber schon bei den ersten Schritten soviel Staub auf, daß sie erschrocken stehenblieb. Es half nichts, sie mußten langsam gehen, sich in Geduld fassen. Als sie näherkamen, bemerkten sie etwas Unförmiges, das über dem Hügel in der Luft hing. Es stand ganz ruhig da oder bewegte sich sacht wie eine große Fahne bei leichtem Wind. Wind geht aber nicht, dachte Ol, es kann keine Fahne sein. Daß auch nicht der leiseste Hauch wehte, war übrigens Glück, denn wenn hier, unter diesen Bedingungen, ein Sturm aufkam, waren sie verloren. Es mußte schlimmer sein als in der Wüste, wo vom Sand ja auch schon innerhalb kürzester Zeit Menschen und Tiere verschüttet wurden. »Was kann das bloß sein?« fragte Viola erstaunt. »Es sieht aus wie ein riesiger Luftballon. Andererseits ist es nicht rund, sondern langgestreckt und flach. Jetzt, wo es sich zur Seite neigt, könnte man es für ein Gummiboot ohne Boden halten, nein, für einen großen Kringel oder eine Brezel.« »Eine Brezel, die fliegen kann, was denn noch«, erwiderte, ein wenig spöttisch, Mo. Ol dagegen, der angestrengt zum Hügel starrte, schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Aber ja doch, eine Brezel!« rief er. »Ein Kringel, der in der Luft schwebt, begreift ihr denn nicht? Das ist ein Flugmolch, wie er leibt und lebt, nichts anderes. Die gibt es also noch, die haben diese unendlichen Zeiten überstanden.« Flugmolche waren eine Art Amphibien, die sich weniger gut auf dem Land, umso besser aber im Wasser und in der Luft bewegen konnten. Sie waren nur auf der Irena zu Hause und den Bewohnern dort seit jeher vertraut. Man brauchte sie nicht zu fürchten, denn sie griffen die Menschen nicht an, verhielten sich eher scheu. »Wenn sich hier Flugmolche aufhalten, gibt es auch Wasser«, sagte Ol erfreut, »das kann gar nicht anders sein.« Nun hatten sie es noch eiliger, zu dem Hügel zu kommen, ließen sich selbst vom Staub nicht mehr zurückhalten, der ihnen in Mund und Nase drang. Hustend und spuckend kamen sie schließlich an. Tatsächlich war die Erhebung von Büschen und Gestrüpp umgeben – eine Vegetation, die an jene im Elming erinnerte. Überhaupt kam Ol die Gegend irgendwie bekannt vor. War hier etwa früher der Tunneleingang gewesen? Nicht direkt, dachte Ol, aber in der Nähe könnte er sich befunden haben. Inzwischen waren Viola und Mo losgestürmt, um den Hügel genauer in Augenschein zu nehmen. Plötzlich brachen sie in ein Freudengeheul aus. »Da ist ein Teich, wir haben Wasser gefunden!« rief Viola und rannte hin. Die Bezeichnung Teich war allerdings reichlich geprahlt. Hinter Riedgras versteckt und mit grünlichen, an Entengrütze erinnernden Algen überwuchert, handelte es sich eher um einen Tümpel. Die Luft hier war dennoch frischer und nicht so trocken. Der Flugmolch, der direkt darüber hing, empfand das offenbar genauso. Die Kinder zerteilten mit den Armen das Riedgras, knieten am Ufer des Tümpels nieder und schoben die Algen beiseite. Zu ihrer Überraschung war das Wasser kühl und klar. Sie schöpften es mit vollen Händen und stillten ihren Durst. Auch Ol trank in großen Schlucken. Er war verwundert, daß das Wasser nicht faulig oder abgestanden schmeckte. Vermutlich wurde der Tümpel von einer noch immer aktiven unterirdischen Quelle gespeist. Um das Wasserloch herum war eine Art Oase entstanden, und wenn es sich bei den Pflanzen auch um anspruchslose Gewächse handelte, die nicht viel zum Leben brauchten, so breiteten sie sich doch aus, wucherten und bildeten im grauen Einerlei der Landschaft eine grüne Insel. »Es überrascht mich gar nicht, daß sich hier Flugmolche einfinden«, sagte Ol, »wer weiß, wo der nächste Teich oder Fluß ist. Die Irena scheint verwüstet und ausgestorben zu sein.« »Du glaubst, wir sind die einzigen Menschen auf dem ganzen Planeten?« sagte Viola erschrocken. »Ich hoffe nicht«, erwiderte Ol, »vielleicht gibt es in anderen Gegenden menschliches Leben. Im Moment haben wir freilich kaum Möglichkeiten, das zu erkunden.« »Wenigstens haben wir erst mal unseren Durst gestillt«, sagte Mo, der stets Optimist war. »Schon richtig«, erwiderte Viola, »zu trinken haben wir. Allerdings ist mein Hunger dadurch nicht kleiner geworden. Im Gegenteil, ich könnte Frühstück, Mittag und Abendbrot auf einmal verschlingen.« ELME AUF DER IRENA Wie um ihren Worten Taten folgen zu lassen, riß Viola ein paar Riedgrasstengel mitsamt der Wurzel aus, befreite sie von Sand und Schlamm und biß geräuschvoll in die saftigen Knollen. Auf der Irena wurden diese Pflanzen als Gemüse benutzt, das mit seinem leicht süßlichen Geschmack vor allem Kindern zusagte. Als sie noch kleiner war, hatte sich das Mädchen oft den Bauch damit vollgeschlagen, bis sie Magendrücken bekam. Den Hunger vermochte man mit diesen Knollen freilich nur schlecht zu stillen, eher wurde noch der Appetit angeregt. Mo, die Riedgraswurzeln kauend, sah sich deshalb suchend nach einem kräftigen Ast um, den er anspitzen und zum Fischfang benutzen konnte. Fische hatte er in dem Tümpel schon entdeckt, es wäre doch gelacht, wenn man nicht zu einer herzhafteren Mahlzeit käme, als es dieses Gemüse war. Auch Ol konnte den Gedanken ans Essen nicht ganz verdrängen. So sehr er Tiere mochte und so erfreut er über das Auftauchen des Flugmolches war – wenn man ihn einfangen und in Stücke zerlegen würde, hätte man für ein paar Tage ausgesorgt. Sein Fleisch sollte etwas fade schmecken, doch was schadete das schon. Vielleicht gelang es ihnen, ein Feuer zu machen und das Tier wie ein Ferkel am Spieß zu braten. Er riß sich von dem Gedanken los – so weit waren sie zum Glück noch nicht. Dem Flugmolch zublinzelnd, als wollte er ihn um Verzeihung bitten, wandte er sich von dem Tümpel ab und dem Hügel zu. Vielleicht gab es dort Pilze, Beeren, wild wachsendes Obst, größere Vögel oder sogar Kaninchen, für die man eine Falle bauen konnte. Ol arbeitete sich durch stachliges Gras und Gestrüpp zu einer Stelle vor, wo der Hügel ziemlich steil abfiel, und plötzlich kam ihm die Gegend sehr vertraut vor. Dieser Teich, der Blick übers Land…wenn er sich noch ein paar Gebäude in der Ferne vorstellte, die allerdings nicht mehr existierten, und dazu eine Straße… »Aber hier bin ich doch…« murmelte er und schob ein paar Sträucher auseinander, ohne sich um die Dornen zu scheren, die seine Hände zerkratzten, »ich bin doch…« Er vollendete seinen Satz nicht, denn unvermutet sah er eine Tür vor sich. Sie war halb verschüttet, von einer dicken Staubschicht bedeckt und gehörte zu einer ins Erdreich gesetzten Mauer. Doch was hieß Mauer und ins Erdreich gesetzt, das da war viel mehr! Jawohl, es war ein ganzes Haus, begraben unter Staub und Steinen, zugeweht und äußerlich in einen Hügel verwandelt, auf dem sich Büsche und sogar kleine Bäume angesiedelt hatten. Um ihre Wurzeln wiederum hatte sich neuer Boden gebildet. Ol wagte nicht zu glauben, was immer wahrscheinlicher wurde. Gemeinsam mit den Kindern, die auf seinen Ruf hin herbeieilten, legte er die Tür frei. Dazu benutzten sie einfach die Hände. Sie behalfen sich aber auch mit Stöcken, die sie von den Sträuchern brachen. Die Tür gab nicht gleich nach, sprang jedoch mit einem Schnarren auf, als sie sich dagegen warfen. Offenbar war die Verriegelung zerbrochen. Der Eingang mußte vor unendlich langer Zeit verschlossen worden sein. Die Kinder wollten sofort losstürmen, um das Innere des Hauses zu erforschen, doch Ol hielt sie zurück. »Hiergeblieben, wir wissen ja gar nicht, was für Gefahren dort drin auf uns lauern. Wenn einer hineingeht, dann bin ich das. Ihr bleibt an der Tür, haltet Augen und Ohren offen. Nehmt eure Stöcke fest in die Hand, damit ihr mir im Notfall beistehen könnt.« Das letzte meinte Violas Vater nicht gar so ernst, er wußte schon, daß er sich vor allem auf sich selbst verlassen mußte. Vorsichtig tastete er sich deshalb in der Dunkelheit vor, gelangte über einen kleinen Flur in ein größeres Zimmer. Durch ein Fenster, vor dem gleichfalls Sträucher wuchsen, sickerte etwas Licht herein. Nein, so vermodert und verfallen, wie er anfangs gedacht hatte, war das hier gar nicht. Und gefährliche Tiere, Giftschlangen oder so etwas, schien es auch nicht zu geben. Ol öffnete das Fenster, so weit es ging, damit mehr Licht und frische Luft hereinkamen, dann schaute er sich genauer um. In der Tat, es war ein Wunder, aber er hatte es geahnt. Die Anordnung der Zimmer, die Möbel – es gab keinen Zweifel. Schon beim Anblick des Tümpels und des Gesträuchs war ihm diese Vermutung gekommen. Als er dann die Tür entdeckt hatte, wurde er sich immer sicherer. Er hatte es bis zuletzt nicht zu hoffen gewagt, aber nun wurde es Gewißheit. Ol rief Mo und Viola: »Ihr könnt ins Haus kommen«, sagte er, »es besteht keine Gefahr.« Die Kinder stürzten herein. »Das ist ja eine richtige Wohnung!« entfuhr es Viola. »Fast gemütlich ist es hier.« »Erkennst du es denn nicht wieder?« fragte der Vater. »Wiedererkennen? Waren wir schon mal hier? Ja, tatsächlich, wenn ich das Muster an der Decke betrachte, die Wände und die Tür…« »Schau dir doch mal den Kamin an und vor allem das kleine Sofa!« Viola wurde ganz blaß um die Nasenspitze und dann wieder rot. »Du meinst… das hier ist unser Haus?« »Ganz ohne Zweifel. Du kannst es dir ruhig auf deinem Sofa bequem machen.« »Das glaub ich nicht«, murmelte Viola. »Nach dieser irre langen Zeit, die inzwischen vergangen ist, das glaub ich einfach nicht.« »Hier geht’s zur Küche und hier zu Violas Zimmer«, sagte Mo zögernd, »es könnte tatsächlich stimmen.« »Aber wie hat es die vielen Jahre überdauert«, fragte Viola, »warum ist es nicht kaputtgegangen?« Sie ließ sich vorsichtig auf ihrem geliebten Sofa nieder. »Einerseits, weil das Material, aus dem wir es damals erbaut hatten, unzerstörbar ist«, erwiderte Ol, »andererseits, weil es wahrscheinlich von Staub umschlossen und auf diese Weise zusätzlich geschützt wurde. Dann hat sich durch Moose und Pflanzen eine weitere Schutzschicht gebildet.« »Nicht mal der graue Staub scheint durch die Ritzen gedrungen zu sein«, sagte das Mädchen, »so fest ist alles ineinander gefügt.« »Und der Tümpel draußen, das ist der Teich, in dem wir immer gebadet haben«, fügte Mo hinzu. »Richtig«, ergänzte Ol, »er wurde ja schon damals von einer unterirdischen Quelle gespeist. Das scheint heute nicht anders zu sein. Zum Glück für uns. Na, dann wollen wir uns mal häuslich einrichten.« Die drei machten sich mit frischem Mut ans Werk. Während Viola die Fenster säuberte und das Gesträuch beiseite bog, damit sie mehr Licht bekamen, sammelte Ol Holz und machte Feuer. Mo aber brach zum Angeln auf. Da er geschickt und die Fische arglos waren, fiel es ihm nicht schwer, mit einem angespitzten Stock schon bald ein großes karpfenähnliches Exemplar zu erjagen. In den nächsten Tagen hatten sie reichlich zu tun. Sie brachten das Haus vom Keller bis zum Dach auf Vordermann, sammelten Beeren, Pilze und eine körnerartige Frucht, die sich zu Mehl zermahlen ließ. Mo fand in der Abstellkammer kräftiges Kunststoffgarn, aus dem er ein Netz für den Fischfang knüpfte, und Ol reparierte das Schloß an der Tür, das sie zerbrochen hatten. Bei derlei Beschäftigung wurde ihnen die Zeit nicht lang, doch sie mußten immer wieder an früher denken. Viola und Ol sehnten sich nach Vi, Mo vermißte den Bruder. Würden sie je zu den beiden zurückkehren können? Sie wußten es nicht. Eines Tages, sie überlegten gerade, was sie zum Mittagessen machen sollten, hörten sie ein sonderbar sirrendes Geräusch vor dem Haus und dann im Flur. Es war, als sei jemand durch die geschlossene Tür hereingekommen. Ol nahm die Sache zunächst nicht ernst. »Ihr sollt nicht immer so hastig die Treppen hinabspringen«, sagte er, »da klirren ja sämtliche Lampen.« Viola wollte gerade erklären, daß keiner von ihnen auf der Treppe gewesen war, als sie erschrak. Etwas Flirrendes bewegte sich an der Tür, danach am Fenster, dann am Kamin. Sie stürzte zu ihrem Vater, preßte sich an ihn. »Ein Geist«, rief sie, »im Haus ist ein Geist!« Und wirklich schälte sich aus dem Schatten am Kamin eine flimmernde Gestalt, nahm die Formen einer Frau an. Mo war gleichfalls erschrocken, zumal plötzlich am Tisch ein zweiter Geist stand. Das aber war eindeutig ein männliches Wesen, genauer gesagt, ein Junge, nicht viel größer als er selbst. »Erkennt ihr uns denn nicht?« fragte die Frau leise, aber mit vertrautem Tonfall, »wir sind so glücklich, daß wir euch gefunden haben. Wir hatten es schon gar nicht mehr zu hoffen gewagt.« »Vi«, rief Ol mit erstickter Stimme, »bist du es wirklich?« Und er fügte hinzu: »Schau doch richtig hin, Viola, es ist die Mama.« Er stürzte, das Mädchen mit sich ziehend, zu seiner Frau. Nach der ersten Verblüffung begriff Viola endlich. Sie stieß einen Freudenschrei aus und wollte sich der Mutter in die Arme werfen. Das ging allerdings nicht so einfach, sie bekam nur flirrende Luft zu fassen. Lediglich einen sanften Hauch spürte sie auf der Wange, der sie streichelte und liebkoste. »Nun überlaß die Mama mal mir«, sagte Ol gerührt, »ich glaube, wir haben uns alle einen Kuß verdient.« Vi lachte, und man sah, daß sie ihrem Mann einen Kuß gab. Währenddessen hatte sich der Geist No – wer hätte es anders sein können – zu seinem Bruder gesellt und versetzte ihm zur Begrüßung einen freundlichen Rippenstoß, von dem Mo allerdings nichts merkte. Man konnte bloß die Bewegung verfolgen. »Ihr kommt als Elme zu uns«, sagte Ol. »Manchmal hatte ich schon so was vermutet. Schade, daß wir euch nicht in die Arme schließen können, aber Hauptsache, ihr seid überhaupt da.« »Das will ich meinen«, erwiderte Vi, »es war nicht ganz einfach, hierher zu gelangen.« »Wart ihr auf der Erde? Seid ihr deshalb körperlos?« »Das werdet ihr gleich alles erfahren, wenn ihr uns nur einen Augenblick zum Verschnaufen laßt«, gab Ols Frau zur Antwort. WIEDER AM KAMIN »Nun aber los, erzählt endlich«, sagte Ol, als die erste Erregung etwas abgeklungen war und sie sich wie in alten Zeiten um den Kamin scharten. Viola und Mo knabberten an einem süßen Fladen, Ol hielt ein Glas mit Beerensaft in der Hand, Vi und No aber saßen einfach da, froh, wieder bei der Familie zu sein. Vorher war Violas Mutter allerdings noch durchs ganze Haus geschwirrt, hatte alle Zimmer und vor allem die Küche in Augenschein genommen. »Fangen wir am besten an der Stelle an, als wir merkten, daß du Viola und Mo nachgerannt bist«, begann Vi. »Statt uns Bescheid zu geben, bist du ohne ein Wort verschwunden. Na, Schwamm drüber. Wenn’s auch sonderbar klingt, es liegt ja Tausende von Jahren zurück.« Ol seufzte: »Tausende von Jahren, das ist wirklich nicht so leicht zu verdauen.« »Wir rannten dir also nach«, fuhr Vi ungerührt fort, »und sahen, daß ihr drei von dem Tunnel eingesogen wurdet. Wir haben euch vom Schutzschild aus beobachtet. Das war vielleicht ein Schock!« »Daß ihr erschrocken wart, glaub ich schon. Aber was geschah dann?« fragte Viola aufgeregt. »Ich schlug vor, die Skaphander zu suchen«, mischte sich No ein, »wir mußten doch was unternehmen.« »Und dann kamen plötzlich Din und Nel mit dem Peilwagen angeflogen«, fügte Vi hinzu. »Diese beiden Spitzbuben, ihr wißt schon. Sie hatten von Or den Auftrag, uns alle zu beobachten. Schon im Haus haben sie uns belauscht, wie wir bald darauf erfuhren.« Ol war verblüfft. Daß der Direktor ihn und seine Familie beobachten ließ, hatte er trotz allem nicht vermutet. Und so hörte er seiner Frau jetzt noch gespannter zu. Vi erzählte, daß die beiden Massaren sie freundlich, aber bestimmt gebeten hatten, in den Peilwagen zu steigen. Dort stellten sie eine Verbindung zu ihrem Chef her, fragten ihn, was nun geschehen sollte. Mittlerweile hatten selbst sie begriffen, daß im Elming und im Tunnel gefährliche Dinge vor sich gingen. Or erkundigte sich zunächst nach den wertvollen Raumanzügen, die Ol aus dem Zentrum mitgenommen hatte. Ob sie sich noch im Haus befänden. Vi schaltete sofort. Sie durfte die Skaphander auf keinen Fall zurückgeben. Es war ihre einzige Chance, Ol und die Kinder wiederzufinden. »Die haben leider Viola und Mo«, schwindelte sie. Dem Direktor gefiel das gar nicht, vielleicht hatte er die Skaphander selbst benutzen wollen, wenn die Lage noch ernster wurde. Er brummte unzufrieden vor sich hin. »Was sollen wir jetzt machen, Chef?« fragte Din. »Setzt Vi und den Bengel zu Hause ab, wenn ihr schon den Wagen dabei habt«, murrte er, »dann kommt ins Zentrum zurück!« »Weshalb haben Sie uns eigentlich beobachten lassen?« wollte Vi von Or wissen. »Ihr müßt mich richtig verstehen. Es geht um Dinge, die für die Irena von höchster Bedeutung sind. Es war nicht persönlich gemeint, wirklich nicht.« Vi gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden: »Ich hoffe, Sie werden Ihre Leute nicht noch mal auf uns ansetzen?« hakte sie nach. »Nein, nein, ich verspreche es«, versicherte Or. Vi wußte natürlich, was sie von den Versprechungen des Direktors zu halten hatte, baute aber darauf, daß er seine Männer jetzt für wichtigere Dinge brauchen würde. Deshalb gab sie sich zufrieden und ließ sich zusammen mit No nach Hause bringen. Dort setzten sie sich erst einmal niedergeschlagen in einen Sessel. Die Lage schien aussichtslos. Vielleicht würden sie Viola, Mo und Ol nie wiedersehen. Um überhaupt etwas zu tun, lief Vi in die Küche und begann aufzuräumen. Das Frühstücksgeschirr stand noch unabgewaschen herum. Sie klapperte mit den Tellern und zerbrach eine Tasse, schien das aber gar nicht zu merken. »Wir müssen uns die Skaphander schnappen und zum Tunnel zurückkehren«, erinnerte No, der ihr gefolgt war. »Das ist unsere einzige Chance.« Vi war skeptisch. »Auch mit den Skaphandern erreichen wir nicht viel. Der Tunnel hat seine Lage bestimmt schon wieder verändert. Wir kommen in einer ganz anderen Zeit an.« »Wo hat Ol die Fluganzüge eigentlich hingetan?« fragte No. »Er hat es mir nicht gesagt. Auf jeden Fall sollten wir uns erst mal überzeugen, ob die Luft rein ist.« Sie blickten aus dem Fenster, gingen auch vor die Tür. Kein Peilwagen oder sonst etwas Verdächtiges war zu entdecken. »Die Massaren scheinen uns tatsächlich in Ruhe zu lassen«, sagte No. »Also gut, suchen wir jetzt die Fluganzüge.« Sie liefen ins Haus zurück und schauten sich nach den beiden Paketen um, die Ol gestern vom Tunnel mit zurückgebracht hatte. Obwohl No wußte, daß es fast unmöglich war, damit in die ferne Zukunft zu gelangen, stellte er sich schon vor, wie er mit dem kristallen flimmernden Ding bei Mo auftauchen würde. Vi hatte gedacht, die Skaphander schnell zu finden, doch sie irrte sich. Weder auf den ersten Blick noch mit gründlichem Stöbern hatten sie Erfolg. Sie nahmen sich, bei Ol angefangen, jedes Zimmer einzeln vor. Als sie auch den Keller, die Abstellkammer und den Boden durchsucht hatten, sahen sie sich verdutzt an. »Sollte Ol die Anzüge etwa doch mitgenommen haben?« sagte No enttäuscht. »Ganz bestimmt nicht, das hätten wir gesehen.« »Aber wo stecken sie dann?« Vi hob die Schultern: »Ich weiß wirklich nicht mehr, wo ich noch suchen soll.« »Wir müssen sie einfach auftreiben«, murmelte No verzweifelt. Plötzlich hatte Vi eine Idee: »Wir haben uns immer nach Paketen umgeschaut. Und wenn Ol die Anzüge nun einfach in den Kleiderschrank gehängt hat?« Sie stürzte los, öffnete den Schrank und – unglaublich aber wahr – da hingen sie! Unförmig und glänzend, zwischen ganz gewöhnlichen Anziehsachen. »Mein Mann ist wirklich einmalig«, sagte Vi. »Wer kommt denn auf den Gedanken, diese wertvollen Skaphander zwischen den Tageskleidern unterzubringen.« No aber erwiderte anerkennend: »Wenn man’s recht bedenkt, war das ganz schön clever. Wie man sieht, sind die Fluganzüge hier besser versteckt als in einem Tresor.« DIE VERWIRRUNG DER MASSAREN Inzwischen wurde den Massaren im Synchronautikzentrum immer klarer, in welcher schwierigen Lage sich die Irena befand. Der Planet war ja überaltert, die Bodenschätze waren fast restlos ausgebeutet. Die Grundstoffe für das Leben hier wurden deshalb zum größten Teil über die Tunnel von der Erde herangeschafft, und man trug sich mit der Absicht, irgendwann ganz dorthin überzusiedeln. Dieser Plan aber wurde undurchführbar, wenn die Tunnel außer Kontrolle gerieten, sich immer mehr in die Zukunft verschoben. Wie lange, so überlegte Or, konnte man überhaupt noch existieren, wenn der Nachschub von anderen Planeten ausblieb. Der Direktor berief umgehend eine Konferenz ein, trommelte Politiker, Wissenschaftler und Tunnelpiloten zusammen. Auch Vi als ehemalige Synchronautin durfte daran teilnehmen. Die Verwirrung war groß. Einige schlugen vor, auf die Erde umzusiedeln, solange noch Zeit war, ohne die Bevölkerung um ihr Einverständnis zu bitten. »Beginnen wir sofort mit der Eroberung«, verlangten sie, »setzen wir unsere Waffen ein.« Or, der schon über diese Möglichkeit nachgedacht und sich mit Experten beraten hatte, war anderer Meinung. »Ob wir so zum Erfolg kommen, ist ungewiß«, sagte er. »Bei der jetzigen Bewegung der Tunnel sollten wir lieber versuchen, in die Vergangenheit der Erde zu gelangen. In jene Zeit, wo sie noch gering besiedelt war. Wir hätten dort alle Chancen, unser System zu errichten und die Entwicklung nach unseren Vorstellungen zu beeinflussen.« Dieser Plan war schlau ausgedacht, das mußte selbst Vi zugeben. Die Erdenmenschen würden gewissermaßen unterworfen werden, ohne zu begreifen, was geschah. Sie wollte schon protestieren, doch zum Glück stellte sich das Vorhaben als undurchführbar heraus. Es war genausowenig zu verwirklichen wie die sofortige Eroberung. Die Fachleute rechneten vor, daß einfach nicht mehr genug Zeit für dieses Unternehmen blieb. Wo sollte man so schnell die gewaltige Tunnelflotte hernehmen, die dafür gebraucht wurde? Schließlich wurde der Vorschlag eingebracht, neue Tunnel zu errichten. Ein Plan, der gleichfalls alle Kräfte der Irener erforderte und am Ende durchaus mißlingen konnte. Aber er schien die einzige Möglichkeit, noch etwas zu retten. Ol hätte ihm gewiß auch zugestimmt, wenn er anwesend gewesen wäre. Or, Din, Nel und einige andere Massaren wollten sich auf eine so unsichere Perspektive allerdings nicht einlassen. Vi erfuhr später, kurz bevor sie selbst mit No die Irena verließ, um nach Ol, Viola und Mo zu suchen, daß sie sich still und heimlich zur Erde aufgemacht hatten. Dort gab es ja geheime Stützpunkte, die mit allem versorgt waren, was sie benötigten. Natürlich hatten sie den modernsten Synchrogleiter benutzt, der im Zentrum zu finden war. Inzwischen hatte No zu Hause die ersten Flugübungen mit dem Kristallskaphander absolviert. Es gehörte schon einiges Geschick dazu, Raum und Zeit auseinanderzuhalten und die jeweils richtigen Manöver auszuführen. Vi dagegen, wie ihr Mann mit den Besonderheiten des Tunnelflugs vertraut, kam besser zurecht. Dennoch passierte es, daß auch sie plötzlich ungewollt in der Vergangenheit verschwand und nicht gleich begriff, wo sie hingeraten war. Man mußte sehr genau steuern, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren. No ging es ähnlich, und so hatten sie ein paarmal Mühe, sich wiederzufinden. Andererseits prallten sie unverhofft heftig zusammen, als sie zur selben Zeit am gleichen Platz, nämlich auf Violas kleinem Sofa, auftauchten. Verdutzt rieben sie sich die Köpfe. Ein paar blaue Flecke oder Beulen waren ihnen sicher. Am Ende hatten sie die Skaphander aber soweit im Griff, daß sie ganz gut damit zurechtkamen. Das war auch notwendig, denn Vi hatte sich inzwischen einen Plan zurechtgelegt, der all ihre Fähigkeiten erforderte. Der Gedanke war ihr in der Konferenz mit den Massaren gekommen. Während sie für No und sich eine letzte kräftige Mahlzeit bereitete und dazu etwas Proviant einpackte, erläuterte sie das Vorhaben: »Wir sollten zur Erde fliegen«, sagte sie, »denn die können wir mit den Skaphandern erreichen. Jedenfalls sieht es so aus, als sei der Weg im Augenblick noch frei.« No war sofort einverstanden. »Ol meinte, wir kämen dort in die Vergangenheit. Das wäre mir nur recht.« Wie sein Bruder Mo, dachte auch er als erstes an Atlantis. »Vergangenheit oder nicht«, erwiderte Vi, »von dort könnten wir weiter in die Zukunft der Irena. Dorthin, wo die andern sind. Und zwar übers Elmenland.« »Wir wollen wieder zurück zur Irena?« rief No enttäuscht aus. »Aber vielleicht sollten wir lieber auf der Erde auf sie warten.« »Nein, nein, dort treffen wir unsere drei nie.« »Und warum fliegen wir dann nicht gleich in die Zukunft wie Ol? Da kommt man doch auch bei den Elmen vorbei. Mit den Skaphandern können wir den Schutzschild am Elming allemal überwinden.« »Der Schutzschild ist nicht mehr das Problem«, erklärte Vi. »Soviel ich gehört habe, existiert er nur noch teilweise.« »Und was ist dann das Problem?« fragte No. »Wir haben uns schon darüber unterhalten. Der Tunnel zur Zukunft verlagert sich und entführt uns sonstwohin. Von der Erde aus und mit den Skaphandern können wir die Flüge dagegen selbständig steuern. Zumindest bis zum Elmenland.« »Und dann?« wollte No wissen. »Als Elme haben wir andere Möglichkeiten. Das weißt du ja besser als ich. Nach dem Untergang eurer Insel hast du doch unendliche Jahre in dieser Form zugebracht, ohne daß dir die Zeit lang geworden wäre.« »Ein bißchen Langeweile hatten Mo und ich schon«, wandte No ein. »Auf jeden Fall würden wir zum entsprechenden Zeitpunkt zu unserem Haus zurückfliegen und auf die drei warten«, erklärte Vi. »Du glaubst, sie kommen hierher zurück?« »Ich wüßte nicht, wo sie sonst hin sollten«, sagte Vi zuversichtlich. AUF DEM WEG ZUR ERDE Ein letztes Mal ließen sich’s die beiden in der vertrauten Küche schmecken, dann brachen sie auf. Vi schloß das Haus gut ab, achtete auch darauf, daß alle Fenster und Luken sorgfältig verriegelt waren. Als das getan war, schlüpfte sie in den Skaphander und gesellte sich zu No, der einige Meter weiter bereits ungeduldig auf das Startzeichen wartete. Auch wenn sie mit den Fluganzügen zur Erde wollten, mußten sie über den Elming, und es stellte sich heraus, daß sie sich damit ziemlichen Gefahren aussetzten. Der Tunnel zog, indem er sich verschob, eine Spur der Verwüstung, die bis zum Synchronautikzentrum reichte. Alles, was ihm in den Weg kam, wurde unbarmherzig eingesogen, ob es sich nun um Häuser, Bäume, Sträucher oder Steinbrocken handelte. All diese Dinge wurden in wilder Fahrt bis ins Elmenland geschleudert, wo es zu einem ungeheuren Durcheinander kam. Der Wirrwarr, den Viola und der Junge aus Sibirien, Kostja, einst dort erlebt hatten, war nichts dagegen. Auf der Irena aber wurden Bauwerke und Anlagen mitleidlos zerstört. Die geborstene Kuppel des Synchronautikzentrums lag über einem Gewirr von verbogenen und zerbrochenen Rohren. Zerrissene Elektrokabel und Metallpfeiler ragten in die Luft. Lediglich die unterirdischen Etagen schienen einigermaßen heilgeblieben zu sein, aber auch dort war natürlich jedes Leben erstorben. Es war, als ob sich der Tunnel an denen rächen wollte, die das Zentrum einst entwickelt und gebaut hatten. Vi und No sahen die Verwüstungen mit Schrecken. Sie näherten sich dem Tunneleingang sehr zögernd, wagten es zunächst nicht, sich dem Sog auszusetzen. Wie sollten sie den Gegenständen ausweichen, die durch die Luft flogen, wie sich überhaupt in diesem Strom orientieren? »Ich komme mir wie ein Tierbändiger vor, der seinen Kopf in den Rachen eines Löwen steckt«, flüsterte Vi. No hatte seinerzeit im Elming den Höhlenlöwen Grau kennengelernt, einen riesigen, aber im Grunde friedfertigen Vierbeiner, der später im Zauberland auf der Erde eine neue Heimat fand. Grau war wirklich furchteinflößend gewesen, dennoch winkte der Junge nur ab: »Ein Löwe ist nichts gegen das hier«, murmelte er. »Wir müssen es weiter hinten versuchen, wo der Sog noch nicht so stark ist«, sagte Vi. »Ach was, wir sollten den Stier gleich bei den Hörnern packen«, erwiderte tapfer No. »Ich hab mal einen Kater auf einem Balkon beobachtet. Unten trieben sich ein paar Katzen herum, und er hätte ihnen liebend gern nachgestellt. Aber es gab keinen Baum in unmittelbarer Nähe, keinen Strauch, kein Schuppendach, über das er hinabklettern konnte. Er mußte springen, das war der einzige Weg. Und er brauchte eine ganze Weile, ehe er sich dazu entschloß. Bestimmt hatte er große Angst.« »Ja und, hat er sich weh getan?« fragte Vi. »Eben nicht, das ist es doch, was ich sagen will. Nichts wird so heiß gegessen, wie’s gekocht ist. Er landete auf allen Vieren und rannte sofort zu den Katzen.« »Ist ja alles schön und gut«, wandte Vi ein, »aber wir sollten trotzdem nicht leichtsinnig sein. Wir haben eine weite Reise vor.« Doch No hatte ihr gar nicht mehr zugehört. Mit einer Art Schlachtruf und einem Hechtsprung stürzte er sich in den Kampf, das heißt mitten hinein in den Sog. Vi blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie durfte ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Der Luftzug war besonders hier am Tunneleingang sehr stark. Die beiden wurden sofort erfaßt und mitgerissen. Dabei durften sie sich nicht ziellos herumwirbeln lassen wie Flaumfedern und mußten auf die Gegenstände achten, die unablässig an ihnen vorbeiflogen. Nicht nur sie selbst hätten sich ja verletzen können, auch die Anzüge waren in Gefahr. Sie durften keinen Schaden nehmen. Wie lange sie so dahinsausten, wie oft sie sich drehten, überschlugen, haarscharf an Baumstämmen, Metallteilen oder Steinbrocken vorbeiglitten – wer hätte es sagen können. Mit Geschick und Glück vermieden sie Zusammenstöße, erlangten immer wieder das nötige Gleichgewicht. Mit der Zeit gelang es ihnen, die Flugtechnik und die Skaphander so zu beherrschen, daß sie keine Purzelbäume mehr schlugen. Sie waren jetzt schon fast so gut wie Ol. »Wir dürfen uns nicht zu weit voneinander entfernen« rief Vi, »sonst verpaßt womöglich einer von uns den Abzweig zur Erde und landet sonstwo.« »Alles klar, ich bleib in deiner Nähe!« Dann ließ der Sog nach, und vom Elmenland aus steuerten sie in Richtung Erde. Ohne die Anzüge wären sie wie die anderen drei in der Zukunft der Irena angekommen. Allerdings in einem späteren Jahrtausend. Nun verlief der Flug ruhig, ja fast gemütlich. Kein Geröll mehr, das an ihnen vorbeischwirrte, keine Gefahren. Das dachte wenigstens No, der sich immer wohler zu fühlen begann, je näher sie der Heimat kamen. Vielleicht würde er seine Insel und die Stadt, in der er seine frühe Kindheit verbracht hatte, doch noch wiedersehen. Alles wird gut werden, sagte sich No zuversichtlich, begann übermütig mit den Armen zu rudern und umrundete Vi, die von seiner Fröhlichkeit angesteckt wurde. Doch die beiden irrten sich, die Prüfungen standen ihnen erst noch bevor. Die Landung auf der Erde sollte ganz anders ausfallen, als sie angenommen hatten. DIE PANNE War viel Zeit vergangen oder wenig – in ihren Fluganzügen verloren Vi und No das Gefühl dafür. Die Erde mußte nahe sein, aber noch glitten sie dahin, ohne daß sich das Tunnelende andeutete. Bis sie urplötzlich in einen neuen Sog gerieten und blitzschnell nach draußen geschleudert wurden. Der Tunnel, so schien es ihnen, war auseinandergebrochen oder hatte sich aufgelöst. Mit Hilfe der Skaphander hätten sie den Sturz vielleicht abfangen können, doch alles kam so überraschend, daß es ihnen nicht gelang, das entsprechende Manöver auszuführen. Nur Vi vermochte in letzter Sekunde durch ein Tastensignal den Aufprall zu dämpfen. No dagegen schlug mit voller Wucht auf dem Boden auf. Es war, als sei er in Atlantis durch eine Falltür auf den Grund eines Verlieses gesaust. Aber das war noch nicht alles. Der Boden des Kerkers wäre wenigstens eben und mit einer Schicht, wenn auch fauligem, Stroh bedeckt gewesen. Hier aber ging es steil abwärts. Er prallte gegen einen Geröllhang und konnte einen zweiten Absturz nur verhindern, indem er sich an einen vorspringenden Felsen klammerte. Scharf schnitten ihm die Kanten in die Hände, so daß er beinahe wieder losgelassen hätte. Zum Glück tat er es nicht. Als er den Kopf wandte und nach unten sah, fuhr ihm der Schreck erst recht in die Glieder. Spitze Klippen, Gischt, ein wildes, brausendes Meer! Die Wellen türmten sich schäumend übereinander und schienen gierig nach ihm zu greifen. Vi befand sich in einer ähnlich schwierigen Lage. Der Unterschied war nur, daß sie sich an einem Busch festhielt, dessen Dornen ihr die Finger zerstachen. Sie versuchte erneut zu starten, aber der Skaphander reagierte nicht auf den entsprechenden Knopfdruck. Hoffentlich hat er bei dem Sturz nichts abbekommen, dachte sie. No wagte den Start gar nicht erst. Es gelang ihm, zwischen dem Geröll Tritt zu fassen und sich langsam nach oben zu schieben. Auch Vi kletterte ein Stück höher. Mit einiger Mühe erreichten beide ein kleines Plateau. Wieder zu Atem gekommen, hielten sie genauer Ausschau. Ol hätte vielleicht etwas mit der Gegend anfangen können, wenn er hier gewesen wäre, er kannte sich in Geographie aus. Vi und No aber hatten keine Vorstellung, wo sie sich befanden. Nur eins stand fest: Um den Äquator mit seinem tropischen Klima handelte es sich bestimmt nicht. Ein stürmischer Wind blies und schien sie umgehend aus seinem Revier vertreiben zu wollen. »Meine Güte, ist das kalt hier, so kenne ich die Erde ja gar nicht.« No fror erbärmlich, zumal er von früher her das warme Klima der Mittelmeerinseln in Erinnerung hatte. Der dünne Skaphander half da wenig. Violas Mutter erging es nicht viel anders. Zwar war sie allerhand Strapazen gewöhnt und abgehärtet, aber in diesem eisigen Wind bibberte sie genauso. »Ol hat gesagt, daß wir uns durch den Erdentunnel in die Vergangenheit bewegen«, sagte sie. »Vielleicht ist es deshalb so kalt. Wir müssen, so schnell es geht, in die Zukunft der Irena starten.« Der Junge hatte ebenfalls keine Lust, noch länger hier zu bleiben. Atlantis würde er wohl nie wiederfinden! »Einverstanden, starten wir«, stimmte er deshalb zu. Doch das war leichter gesagt als getan – den Fluganzügen war der Absturz nicht gerade gut bekommen. Während Vi ihren Skaphander nach einer Weile in Gang brachte und vor den Augen des Jungen plötzlich in der Zukunft verschwand, schien seiner ernstlich beschädigt zu sein. Welche Knöpfe No auch immer drückte, nichts funktionierte mehr. Einsam und verlassen stand er auf dem Plateau. Er versuchte es wieder und wieder, wechselte mehrfach das Programm, doch vergeblich. Der Sturm heulte, die Klippen ragten drohend unter ihm auf, die Wellen türmten sich immer höher: »Gleich haben wir dich«, raunten sie unheilvoll, »du wirst uns nicht entkommen!« »Was ist denn bloß los«, murmelte No verzweifelt. In diesem Augenblick tauchte Vi erneut neben ihm auf. Sie hatte gemerkt, daß bei dem Jungen etwas nicht klappte, und kehrtgemacht. Nun mühte auch sie sich mit den Tasten seines Skaphanders ab, doch sie brachte nicht mehr zustande als No. »Wahrscheinlich bist du zu hart aufgeschlagen«, sagte Vi. »Wir wurden einfach zu jäh aus dem Tunnel geschleudert. Kein Vergleich mit den sanften Landungen früher.« »Und was soll ich jetzt machen?« »Uns wird schon etwas einfallen. Ich laß dich nicht im Stich«, tröstete ihn Vi. »Nur mir passieren immer solche Sachen. Mit diesen Tunneln hatte ich noch nie Glück.« »Nun verlier nicht gleich den Mut«, sagte Vi, »das hätte mir genauso zustoßen können. Wir setzen uns jetzt erst mal hinter den Felsen dort, der schützt ein bißchen vor Kälte und Sturm. Dann überlegen wir in Ruhe.« Kurz darauf hockten sie nebeneinander hinter dem Felsen. Hier pfiff der Wind weniger stark, und sie froren nicht mehr so. Eine Lösung ihres Problems fiel ihnen deshalb aber noch lange nicht ein. »Das wäre ein Ding, wenn jetzt Prim aus dem Wasser steigen und uns begrüßen würde«, sagte No. Prim war ein großer Krake, den es seinerzeit gleichfalls ins Elmenland verschlagen hatte. Er war ein äußerst sympathischer Kerl, stets freundlich und hilfsbereit und vor allem, wie viele dieser Tiefseebewohner, mit hypnotischen Kräften ausgestattet. Er hatte No, den Seemann Charlie Black, Mo und andere einst davor bewahrt, in die Elmenfalle der Massaren Din und Nel zu tappen. Er hatte vorher auch Viola und ihrem Freund Kostja einen großen Dienst erwiesen. Später war er dann auf die Erde zurückgekehrt. »Weil du gerade von Prim sprichst – mir ist da eine Idee gekommen!« sagte Vi unvermittelt. »Erinnerst du dich an die Geschichte mit der Haliotisperle?« »Natürlich. Prim hatte diese Perle von zu Hause mitgebracht und hütete sie wie seinen Augapfel. Sie war sein kostbarstes Gut, gewissermaßen ein Andenken an das Leben daheim, auf dem Meeresgrund. Trotzdem hat er sie Viola geschenkt.« »Er hat sie nicht nur Viola, sondern auch Kostja gegeben«, erwiderte Vi. »Sie mußten die Hände ineinanderlegen und dabei die Perle festhalten. Durch ihre Zauberkraft wurden sie beide befreit. Kostja gelangte zur Erde zurück, Viola zu uns auf die Irena.« »Stimmt, genauso war es«, bestätigte No. »Und welche Idee ist dir nun dabei gekommen?« »Die beiden hatten nur diese eine Perle und haben sich ihrer gemeinsam bedient«, erklärte Vi. »Auch wir sind zu zweit und besitzen nur einen funktionierenden Skaphander. Verstehst du, was ich meine?« ZU ZWEIT IN EINEM SKAPHANDER No schaute Vi fragend an, aber dann glomm in seinen Augen unvermittelt ein Funken Hoffnung auf: »Du meinst, dein Fluganzug könnte uns eventuell beide zur Irena bringen?« »Zumindest bis ins Elmenland. Wenn wir uns geschickt anstellen, müßte es klappen.« »Ich weiß nicht«, sagte der Junge zweifelnd. »Vielleicht machen wir ihn damit auch noch kaputt. Er ist doch nur für eine Person konstruiert.« »Das schon, aber für einen sehr großen Menschen. Ich hab im Grunde zweimal darin Platz, und das Material ist zudem elastisch.« Nos Bedenken waren noch nicht ausgeräumt: »Der Anzug hat aber nur zwei Ärmel und zwei Beine«, wandte er ein. »Mit den Hosenbeinen wird’s tatsächlich etwas eng«, stimmte Vi zu. »Wir müssen unsere in eins quetschen. In die Ärmel dagegen können wir je einen Arm stecken, mit der anderen Hand fassen wir uns an. Und mit dem Kopf – na ja, irgendwie wird es schon gehen.« »Du bist größer, du bekommst das Visier«, sagte der Junge großzügig. »Und ich stecke meinen Kopf einfach unter deine Schulter.« »Da mußt du den Rücken aber ganz schön krumm machen«, entgegnete Vi belustigt. »Na los, worauf warten wir noch. Versuchen wir’s.« Sie zogen ihre Skaphander aus, und während No seinen sorgsam zu einem Paket zusammenfaltete, breitete Vi ihren auf dem Boden aus. »Wir kriechen am besten hinein, wie in einen Schlafsack«, sagte sie. »Und was mach ich mit meinem Fluganzug?« fragte No. »Laß ihn hier. Er ist ja kaputt, und in meinem Skaphander können wir ihn unmöglich auch noch unterbringen.« »Ich werde ihn in diese Felsspalte legen«, sagte der Junge. »Vielleicht kommen wir noch mal mit jemandem an diesen Ort zurück, der ihn reparieren kann.« »Tu das«, stimmte Vi zu, »es ist wahrscheinlich das beste.« Sie zweifelte allerdings daran, daß sie diese Felsen noch einmal aufsuchen würden. No verstaute den Anzug, und sie krochen beide in den Skaphander von Vi. Dieses Manöver kostete sie einige Mühe und sah gewiß auch komisch aus, aber Zuschauer gab es hier nicht. Oder etwa doch? Als sie es endlich geschafft hatten und sich aneinander geklammert aufrichteten, war ihnen, als ruhte ein fremder geheimnisvoller Blick auf ihnen. Sie fühlten es beide. Vi schaute angespannt durchs Visier, um etwas zu entdecken, und No steckte den Kopf durch den Spalt vom Reißverschluß. »Uns beobachtet jemand«, flüsterte er. »Mir kommt es auch so vor. Aber ich kann niemanden sehen«, antwortete Vi, gleichfalls flüsternd. »Vielleicht ein Tier, das heute noch kein Frühstück hatte, ein Meeresungeheuer!« Vi versuchte sich umzudrehen, doch es gelang nur halb: »Waren da nicht zwei große Augen, ein riesiger flacher Kopf und so etwas wie der Leib einer Schlange im Wasser? Bei diesem Meerestosen hab ich es nur für einen Augenblick gesehen.« »Ich hatte ebenfalls den Eindruck, als wäre da eine Art Schlangenkopf gewesen«, bestätigte No, »aber sicher bin ich mir nicht. Wie auch immer, wir sollten uns davonmachen.« »Gut, starten wir. Hoffentlich finden wir den Tunneleingang wieder«, sagte Vi. Doch das war alles andere als einfach. Wie schon auf der Irena, hatte sich auch hier der Tunneleingang verschoben, und zwar weiter in die Vergangenheit. Dazu kam, daß sich der Fluganzug durch die doppelte Last, die er bewegen mußte, nur schwer steuern ließ. Deshalb mußten die beiden, kaum daß sie abgehoben hatten, schon wieder landen. Sie gingen auf demselben Plateau nieder, das sie gerade verlassen hatten. »Wir schaffen es nicht. Wo steckt nur dieser verflixte Tunnel?« rief No verzweifelt. »Er müßte hier sein. Wir sind um Jahre zurückgeflogen. Siehst du nicht, wie hoch das Wasser inzwischen steht? Als wir eben noch bei diesem Felsen waren, lag das Meer bedeutend tiefer.« Tatsächlich waren die Klippen und der Geröllhang jetzt überflutet. Die Wellen hoben sich bereits bis zum Plateau. »Hier? Ich seh nichts. Und mein Skaphander ist auch verschwunden. Mach doch was, Vi!« Der Sturm heulte noch stärker als vorher. Plötzlich stieg eine Springflut empor. Ein Windstoß erfaßte die beiden, die in ihrem Anzug ohnehin nicht sehr fest auf den Beinen standen, und fegte sie ins Meer. Sie überschlugen sich, wurden mehrfach um die eigene Achse gewirbelt, und No schluckte sogar Wasser. Der Junge bekam es mit der Angst zu tun, ruderte mit dem Skaphanderarm und auch Vi machte Schwimmbewegungen. Doch sie ertranken nicht. Glücklicherweise wurden sie kurz darauf von einer Woge nach oben gerissen, so daß sie wieder Luft bekamen. Gleichzeitig gerieten sie aber in einen Strudel, der sie erneut den Felsen entgegenschleuderte. Vi sah plötzlich durchs Visier ihres Helms mit ungeheurer Geschwindigkeit einen gewaltigen schwarzen Stein auf sich zurasen. Sie glaubte, ihr letztes Stündlein sei gekommen und konnte gerade noch entsetzt den Arm heben. Sie wollte, wenn schon nicht sich, so wenigstens den Jungen schützen. Aber diesmal gab es keinen Aufprall, sie wurden im Gegenteil freundlich empfangen. Der Stein öffnete sich vor ihnen und nahm sie sanft in sein Inneres auf. Sie hatten den Tunneleingang gefunden, den sie so verzweifelt gesucht hatten. Es war wie bei dem Säbelzahntiger Achr und dem Riesenmädchen Ah, wie bei der Hexe Arachna und all den anderen Gestalten des Zauberlandes, die an die geheimnisvollen schwarzen Steine gerieten. Nur daß Vi und No, sobald der Sog nachließ, mit ihrem Skaphander das Tempo selbst bestimmen konnten. Sie flogen langsam weiter. Vor ihnen lag Dunkelheit, weit hinter ihnen brandete das Meer, schäumte und wütete, als wollte es in den Tunnel eindringen. »Es sieht aus, als wären die Wellen erbost darüber, daß sie uns freigeben mußten«, sagte No, als er den Kopf wieder aus dem Fluganzug steckte. »Das war knapp. Noch einmal möchte ich nicht in so eine Flut geraten«, erwiderte Vi. Dann wurde ihnen die Luft plötzlich leicht, fast schwerelos schwebten sie dahin. Gleichzeitig wurde es heller. Sie erreichten das Elmenland, das in der Mitte zwischen der Erde und der Irena lag und wo sie gefangen gewesen wären, hätten sie nicht ihren Fluganzug gehabt. Beinahe hätten sie nicht gemerkt, daß sie zu Elmen wurden, durchschimmernd und körperlos wie Geister. Nun konnten sie zur Irena zurückkehren, genauer gesagt in die Zukunft dieses Planeten, wohin es auch Ol, Viola und Mo verschlagen hatte. Sie hatten Sehnsucht nach ihnen und waren gespannt, ob und wie sich die drei dort behaupteten. WIEDER AUF DER IRENA Vi und No waren am Ziel! Sie hatten die Reise durch den Tunnel glücklich überstanden und landeten, genau wie vorher die andern drei, mitten im grauen Staub. Da sie Elme waren, wirbelte er aber nicht auf. Er störte sie auch nicht; weshalb sollten sie husten oder spucken, sie waren ja Geister. Dennoch waren sie natürlich verblüfft und erschrocken über den Zustand ihres Planeten, es ging ihnen da genauso wie Ol, Viola und No. Was für eine bläßlich schwache Sonne, was für ein trostloser Himmel, und vor allem – was für eine Erdenwüste mit der breiten verheerenden Spur des Tunnels! No war, wie auch sein Bruder Mo, nach dem Untergang seiner Insel unendliche Zeiten als Elm umhergestreift, für Vi dagegen war dieses Gefühl neu. »Können uns die andern denn überhaupt sehen, wenn wir sie finden?« fragte sie besorgt. »Aber ja. Wenn wir die Energie bündeln, die in uns steckt, erkennen sie uns zumindest in Umrissen«, erklärte No. »Wir flimmern und schimmern wie dünner Nebel, wenn die Sonne aufgeht.« »Das ist ja großartig«, spottete Vi. »Ich als Nebelgeist. Na danke!« »Besser Nebelgeist als Nachtgespenst«, der Junge lachte. »Die schwirren nämlich ganz düster umher. Man könnte meinen, sie bestehen aus feuchtem, modrigem Friedhofsdunst und fahlem Mondlicht.« »Ich sehe schon, du kennst dich mit Gespenstern aus«, sagte Vi. »Aber mal Spaß beiseite, wir müssen unser Haus suchen. Oder wenigstens den Ort, wo es gestanden hat.« »Du glaubst, Ol, Mo und Viola kehren dorthin zurück?« »Wo sollten sie sonst hin? Ol ist mit Sicherheit der Spur des Tunnels gefolgt.« »Stimmt, so wird es sein«, erwiderte No. »Und du nimmst an, sie sind bereits da?« »Sie mußten doch nicht so einen Umweg machen wie wir. Außerdem sind sie ja vor uns weg. Aber ganz gleich, ob sie nun schon angekommen sind oder nicht, wir sollten jetzt losfliegen. Wenn sie noch nicht da sind, warten wir eben auf sie.« Sie schwirrten los, flogen in einiger Höhe über dem grauen Erdboden dahin, über all dem Dreck und Staub, der hier und da von einer leichten Luftbewegung aufgewirbelt wurde. »Das ist ja die totale Ödnis«, stöhnte No. »Wenn es wenigstens Sand oder Steine wären.« Vi erinnerte sich an das zerstörte Synchronautikzentrum, an dem sie bei ihrem Abflug vorbeigekommen waren, an die zertrümmerten Häuser und das aufgerissene Erdreich. Was mochte sich hier bloß abgespielt haben? »Hoffentlich ist es nicht überall so«, sagte sie. »Das wäre wirklich furchtbar«, stimmte der Junge zu. Dann entdeckten sie, wie schon die drei vor ihnen, den mit Flechten, Sträuchern und kleinen Bäumen bewachsenen Hügel, sahen aus der Ferne auch die Flugmolche. Zu dem einen, den bereits Ol, Viola und Mo gesehen hatten, waren zwei weitere gekommen. »Es gibt doch noch Lebewesen auf der Irena!« Vi fühlte sich gleich nicht mehr so verloren. Der von Riedgras gesäumte Tümpel erfreute sie ebenfalls. »Ein Hügel mit Sträuchern, ein Tümpel und sogar Flugmolche, ringsum aber nur staubige Ödnis«, fuhr sie fort. »Wenn sich Ol mit den beiden Kindern irgendwo aufhält, dann hier, da bin ich mir ganz sicher.« »Ich glaube, der Hügel hat eine Tür«, rief No plötzlich. »Eine Tür? Na, weißt du!« »Doch, da unten, schau nur richtig hin.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sich der Junge hinabgleiten. Vi folgte ihm. Als sie dann noch, hinter Büschen versteckt, ein paar Fenster entdeckte, wußte sie, daß es sich nicht einfach um einen Hügel handelte. Für sie als Elme war es keineswegs schwierig, durch die geschlossene Tür ins Haus zu gelangen. Da sie es sehr eilig hatten, entstand beim Eindringen eine Reibung, die ein leises Sirren erzeugte. Dieses Sirren war es auch, was Ol, Viola und Mo gehört hatten, bevor sie die beiden flirrenden Gestalten am Kamin und am Tisch sahen. Von der herzlichen gegenseitigen Begrüßung aber haben wir bereits erfahren. DER SANDSTURM Ein Ziel hatten die fünf nun erreicht – sie hatten sich wieder gefunden, konnten ab jetzt alles gemeinsam besprechen. Die Bedingungen, unter denen sie leben mußten, waren allerdings alles andere als normal. Zwei Geister und drei menschliche Wesen, die Mühe hatten, sich einigermaßen vernünftig zu ernähren, beschränkt auf eine kleine grüne Insel inmitten einer staubigen Wüste. Auf die Dauer war das kaum durchzuhalten. Immerhin gab es die drei Flugmolche am Teich, die von ihnen keinerlei Gefahr zu befürchten schienen, geradezu zahm waren. Vi, die aus kartoffelartigen Knollen und Mehlfrüchten schnell Suppen für ihre drei zu kochen und sogar Brot zu backen lernte, merkte bald, daß die Amphibien solche Nahrung gleichfalls nicht verschmähten. Vor allem den Kindern machte es Spaß, sie damit zu füttern. Fast gehörten die Tiere schon zur Familie. Ol hielt es für notwendig, die weitere Umgebung zu erkunden. Er startete immer wieder entsprechende Versuche, doch in dem Staub kam er nicht weit. Anders dagegen No, der bald riesige Strecken abflog. Mo war etwas neidisch, wie gern wäre er mitgesaust, wenn der Bruder morgens loszog. Stattdessen mußte er Fische fangen oder Pilze sammeln. Ein wenig sehnte er sich sogar ins Elmendasein zurück. No blieb oft den ganzen Tag weg, und wenn er zurückkam, hatte er wenig Erfreuliches zu berichten. Der Planet schien in der Tat ausgestorben – der Junge hatte keinerlei Ansiedlung und auch keine menschliche Behausung außer der ihren entdecken können. Der Staub aber, die Ödnis waren allgegenwärtig. Nur ganz selten behauptete sich noch eine grüne Oase in der Wüste, ein Zeichen, daß es in der Tiefe Wasser geben mußte. Doch nicht einmal einen zweiten Tümpel spürte er auf. Abends berichtete No von seinen Erkundungen, und alle waren entsetzt. Obwohl so etwas zu befürchten gewesen war, hatten sie doch gehofft, nicht die einzigen Bewohner zu sein. »Es muß eine Katastrophe auf der Irena gegeben haben, vielleicht schon kurz nach unserem unfreiwilligen Start in die Zukunft«, vermutete Ol. »Sollte mich nicht wundern, wenn das mit der Verschiebung der Tunnel zusammenhängt.« Einer der Flugmolche schwebte lautlos heran. Vi tätschelte ihm den Kopf, was er sich gern gefallen ließ. »Ihr seid schon länger hier als wir«, sagte sie, »und habt euch offenbar als einzige Kreaturen auf unserem Planeten über Generationen hin behauptet. Könnt ihr uns nicht Auskunft über das geben, was geschehen ist?« Doch das Tier, von dem sie, genau wie von seinen anderen Artgenossen, noch nie einen Laut vernommen hatten, schwieg auch diesmal. Am nächsten Morgen waren Viola, Mo und No am Teich, um Riedgraswurzeln zu holen, Ol und Vi aber diskutierten erneut über die Geschehnisse auf der Irena. Sie konnten einfach nicht glauben, daß die Menschen hier ausgestorben waren. Unvermutet schnell kamen die Kinder vom Tümpel zurück, und hinter ihnen tauchten die drei Flugmolche auf. Sie gebärdeten sich unruhig, zuckten mit dem Körper, zitterten sogar. »Was ist los, weshalb sind sie so aufgeregt, und warum kommt ihr schon zurück?« fragte Vi. »Es geht ziemlicher Wind, er wirbelt den Staub auf«, sagte Viola. »Das ist sehr unangenehm und gefällt den Molchen bestimmt genausowenig wie uns.« Nun hörten auch Vi und Ol den Wind im Gesträuch pfeifen und an den Fensterläden rütteln. »Das klingt anders als neulich in der Ebene«, sagte Ol. Er war da von einem Ausflug vorzeitig zurückgekehrt, weil er dachte, es gäbe ein Gewitter. »Die Tiere drängen ins Haus, sie scheinen Schutz zu suchen«, murmelte Vi. »Komm her, du«, sagte Viola zu einem der Molche, der zur Tür hereingeflattert war und sich auf den Boden gelegt hatte. Sie stieg über seinen Körper hinweg in den Ring, den er bildete, setzte sich und streichelte seine samtene Haut. Er wurde sofort ruhiger. Unvermittelt fuhr ein Windstoß in den Kamin, begleitet von einem schauerlichen Heulen. »Das sieht ganz nach einem Sturm aus«, sagte Vi. »Ich schau mal nach, ob alle Fenster zu sind.« Sie eilte durchs Haus, prüfte die Verriegelung der Fenster. Ol dagegen rannte zur Tür. Doch nicht etwa, um sie fester zu schließen, sondern um sich nichts von dem bevorstehenden grandiosen Ereignis entgehen zu lassen. Wenig später waren auch die anderen draußen. Sie standen im Schutz einiger Büsche und warteten auf das Naturschauspiel, das gleich beginnen würde. Zu ihren Füßen trieb, von kräftigen Windböen aufgewirbelt, Staub dahin, doch im übrigen war die Luft klar und rein, geradezu durchsichtig. In solchen Augenblicken konnte man besonders weit sehen. Die Landschaft wirkte nicht weniger verlassen als sonst und hatte doch etwas Majestätisches. Da waren die graubraunen Dünen, von früheren Stürmen aufgetürmt und zum Teil als Wanderdünen in ständiger Bewegung, da war die flirrende Ebene, und da hoben sich, fern am Horizont, die Berge ab. Ihre Umrisse waren normalerweise nicht zu erkennen. Dann ging es los. Am Himmelsrand stieg ein unscheinbares leichtes Wölkchen auf. Es wuchs, wurde zusehends dichter und dunkler, füllte sich in unglaublicher Geschwindigkeit mit Millionen, ja Milliarden feinster Sandkörnchen auf, um sich schließlich zu einer gewaltigen Windhose zu entwickeln. Schwarz und unheilvoll fegte sie, brausend und mit zerstörerischer Kraft, übers Land. Dieser Wirbelsturm raste auf sie zu und tobte schon bald in unmittelbarer Nähe. Er sog alles in sich ein, was ihm in den Weg kam: die Dünen, die Steine und die Sonne mit ihrem Licht. Ringsum wurde es stockfinster. Ehe sie sich’s versahen, hatten Ol, Viola und Mo kratzenden Staub im Mund und nicht genug Hände, um Nase, Augen und Ohren zu schützen. Schneller als sie es verlassen hatten, flüchteten sie ins Haus zurück. Schließlich, nachdem sie die Tür fest hinter sich verriegelt hatten, saßen die fünf im Wohnzimmer um den Kamin versammelt und streichelten beruhigend die Flugmolche. Dabei waren sie selbst aufs höchste besorgt, und zwar nicht nur wegen des Sturms. Sie fragten sich, wie es mit ihnen weitergehen sollte. ABSCHIED VON DER IRENA Was die Tiere betraf, so war die Sache klar: Der Planet, ob nun gut oder schlecht, bevölkert oder ausgestorben, war ihr Zuhause. Sie hatten sich nicht aussuchen können, wo sie geboren wurden und lebten, mußten sich den Gegebenheiten hier anpassen. Bei den Menschen dagegen verhielt es sich anders. Sie konnten sich entscheiden, mußten es sogar. Der Sturm hatte es ihnen deutlich vor Augen geführt. Mit seiner ungeheuren zerstörerischen Kraft hatte er ihnen bewiesen, daß sie sich hier auf Dauer nicht behaupten würden. Ol, dem plötzlich bewußt wurde, daß sie wertvolle Zeit verstreichen ließen, erschrak. »Die Tunnel verschieben sich unaufhaltsam«, sagte er zu Vi, »vielleicht sind sie für uns schon bald nicht mehr erreichbar. Dann müssen wir hierbleiben, werden über kurz oder lang in all dem Sand zugrundegehen. Ihr als Elme überlebt zwar, bleibt aber einsam zurück. Das will sicherlich keiner von uns.« »Du hast recht«, erwiderte Vi, »wir verhalten uns wirklich unvernünftig. Aber was sollen wir tun? Selbst wenn es uns gelingen würde, in unsere alte Welt zurückzukehren, hätten wir nicht viel erreicht. Die Zerstörung zu Hause ist ja schon in vollem Gange.« »Das mit dem Tunnelbau ist total falsch gelaufen«, sagte Ol nachdenklich. »In ihrer Gier, die Erde zu unterwerfen, haben die Massaren alles unterhöhlt. Man müßte in die Vergangenheit der Irena zurückkehren und die Sache von Anfang an besser machen.« »Du träumst. Wie willst du zurück in unsere Vergangenheit gelangen?« »Es gibt eine Möglichkeit«, erklärte Ol. »Noch scheint ja die Verbindung zur Erde zu existieren, wie ihr vor kurzem selber feststellen konntet. Offenbar würden wir auch dort in eine frühere Epoche geraten, doch das muß nichts schaden. Im Gegenteil, auf diese Weise könnten wir wahrscheinlich zu jener Irena zurückkehren, auf der noch alles in Ordnung war.« »Das wäre großartig«, stimmte Vi zu. »Bereits im Elmenland würden No und ich uns wieder in Menschen verwandeln. Oder wir wählen alle fünf eine andere Gestalt, um uns den Bedingungen auf der Erde anzupassen.« »Aber ich möchte nicht noch mal in dieses Meer geraten«, wandte No ein. »Es war nicht gerade angenehm, von dem eiskalten Wind gepackt und von den Wellen herumgewirbelt zu werden.« »Du und dein Bruder, ihr bekommt den Skaphander«, erklärte Ol. »Damit könnt ihr endlich Atlantis suchen.« Dieser Gedanke war sehr verlockend für die beiden Jungen. Es würde ein aufregendes Abenteuer werden, an dessen Ende das Wiedersehen mit all ihren Verwandten und Freunden stand. An die Gefahren freilich dachten sie weniger, deshalb stimmten sie eifrig zu. Inzwischen hatte sich der Sturm wieder gelegt. Er war so unvermittelt zur Ruhe gekommen, wie er begonnen hatte. Doch hatte er solche Mengen Staub gegen Tür und Fenster geweht, daß Ol, Viola und Mo fast nicht aus dem Haus gekommen wären. Ol kletterte durch eine Dachluke und schaufelte von außen die Tür frei. Die Büsche und Bäume ringsum sahen aus, als hätte man sie in Ruß getaucht. In einiger Entfernung zog sich die Spur des Tunnels hin, weiter hinten war sogar seine Öffnung zu erkennen. »Der Tunnel ist nähergerückt«, sagte Ol. »Es sieht fast so aus, als wollte er uns einladen. Wir sollten bald aufbrechen.« »Manchmal glaube ich wirklich, ein Schutzgeist hält seine Hand über uns«, erwiderte Vi. »Erinnerst du dich an den Kopf mit den großen starren Augen, No, der uns auf der Erde, auf diesem Felsen im Meer beobachtet hat? Wir wurden kurz darauf auf wundersame Weise gerettet, als wir fast am Ertrinken waren.« »Und ob ich mich erinnere«, No nickte heftig. »Ich träume sogar davon. Kürzlich sahen mich diese Augen wieder an, und zwar durchs Wasser, wie aus einem Aquarium. Der Kopf aber gehörte zu einem Schlangenleib, der gar nicht enden wollte.« »Eine Riesenschlange in einem Aquarium«, rief Viola, »du hast vielleicht Träume!« Und Mo ergänzte: »Wenn mal nicht du in dem Aquarium eingesperrt warst, und die Schlange war draußen. Für sie hat es bestimmt so ausgesehen.« Ol aber war aufmerksam geworden: »Ein riesiger Kopf, ein unendlich langer Schlangenleib und starre große Augen? Das ist nicht einfach ein Traum oder etwas, das ihr euch nur eingebildet habt. Auf der Erde, im Zauberland, habe ich davon gehört. Ihr wißt schon, dort wo es den Weisen Scheuch gibt, den Eisernen Holzfäller und den Tapferen Löwen. Die Bewohner nennen das Tier die Große Glua und schreiben ihr Wunderkräfte zu. Es soll in unterirdischen Gefilden leben.« »Aber das klingt ja fast wie ein Märchen«, sagte Viola. »Es gibt vielleicht mehr Märchen im Leben, als wir manchmal denken«, erwiderte Ol. »Sie vermischen sich mit der Wirklichkeit und helfen uns zu überleben.« Während sie sich unterhielten, waren schweigend die drei Flugmolche nähergekommen. Es sah aus, als würden sie zuhören. »Schau dir unsere Freunde an«, sagte Vi. »Daß sie uns heute früh vor dem Sturm gewarnt und daß wir sie hier überhaupt angetroffen haben, ist auch so ein Märchen.« »Jedenfalls sind mir die Flugmolche nicht so unheimlich wie diese große Glua«, erklärte No. »Man kann sie richtig liebhaben«, fügte Mo hinzu und streichelte den, der ihm am nächsten war. Ol dachte daran, daß er anfangs beinahe der Versuchung erlegen wäre, eins der Tiere einzufangen, um es zu verspeisen, und schwieg deshalb lieber. Am nächsten Morgen rüsteten sie zur Abreise. Sie verschlossen und verriegelten das Haus wie immer, wenn sie es verließen. Dabei waren sie fest davon überzeugt, nicht mehr hierher zurückzukehren. »Wie oft bin ich schon von hier zur Erde aufgebrochen«, sagte Ol, »diesmal fällt es mir am leichtesten.« »Uns auch«, bestätigten Mo und No. »Bloß daß wir uns trennen müssen, ist schlimm.« »Bis zum Elmenland können wir noch zusammenbleiben«, tröstete Vi. »Danach stellt Ol den Skaphander so ein, daß ihr in eure Zeit kommt. Dann findet ihr eure Familien wieder. Sollte es aber nicht klappen, fliegt ihr einfach zurück zur Vergangenheit der Irena. Zu uns!« »Wie auch immer, wir sehen uns bestimmt wieder. Wär doch gelacht«, sagte Viola tapfer und wischte sich eine Träne aus dem Auge. Auch die Flugmolche waren zur Verabschiedung gekommen. Sie zogen kleine Kreise über ihren Köpfen, und der eine stieß das Mädchen sacht mit dem Kopf an. »Er fordert dich zu einer Abschiedsrunde auf«, sagte Ol. »Versuch’s doch mal, soviel Zeit haben wir noch.« Tatsächlich glitt der Molch zu Boden, als wollte er diese Worte bestätigen. Viola legte sich auf ihn, mit gespreizten Armen und Beinen, wie auf ein Schlauchboot. Vorsichtig erhob sich das Tier in die Luft und drehte eine Runde mit dem Mädchen. Dann setzte es sie behutsam wieder ab. »Die haben sich an uns gewöhnt wie wir an sie«, Vi war überrascht. »Man könnte direkt von vernunftbegabten Wesen sprechen.« Und sie fügte traurig hinzu: »Lebt wohl, es muß sein!« »Lebt wohl, lebt wohl!« riefen alle andern. Die Flugmolche wiegten sich wie zur Entgegnung in Kopfhöhe und schwebten dann gemessen davon. Der Tunneleingang war erreicht, der Sog diesmal lange nicht so stark wie sonst. Dennoch wurden sie im Nu erfaßt und ins Innere entführt. Die grauen staubigen Ebenen der verwüsteten Irena, aber auch der Hügel mit dem Gebüsch, das ihr Haus überwucherte, und der grünschimmernde Tümpel blieben endgültig hinter ihnen zurück.